#TexasText/Jamal Tuschick – Jamal Tuschick – Verfehlter Pfad

English Version

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„Die tantrische Revolution (vor tausend Jahren) brachte ihren Anhängern ähnlich befreiende Erneuerungen wie so mancher politische Umbruch in Europa viele Jahrhunderte später. Sie räumte auf mit den Vorstellungen eines patriarchalischen Kastensystems und lehrte Freiheit, Gleichheit und Integration, basierend auf dem gemeinsamen göttlichen Ursprung aller Wesen.“ Diana Sans

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„Wir wachsen durch dieselben Hindernisse, die uns zu Fall bringen.“ Yoga-Sprichwort, überliefert von Christopher Wallis

Verfehlter Pfad

Sie sickerten an Binh Phu vorbei, einem Dorf in der Provinz Dinh Tuong, siebzig Kilometer vor Saigon. Eine Vorstellung des Feldtheaters der Nationalen Befreiungsfront bannte die Aufmerksamkeit des Volkes. Ein gelber Stern auf blaurotem Grund markierte den Spielplatz. Jemand rief: „Hoan ho hoa binh“ – Es lebe der Frieden.
Für Binh klang das wie Hohn. Er gehörte zur Lực lượng đặc biệt, einer Spezialeinheit der südvietnamesischen Army of the Republic of Vietnam. Auf der Gegenseite operierte die Nordvietnamesische Volksarmee. Deren sogenannte Provisorische Revolutionsregierung hatte sich in der Gegend längst festgesetzt. Binh vermutete eine Lockheed YO-3 im Himmel über dem Kommando, ein leises Flugzeug. Near-silence. Die Männer glitten zum Fluss, in dessen Delta sie operierten, sie bewegten sich in einer Kraterlandschaft mit unschönen Grüßen der B-52. Die Anspannung verwandelte versehrte Palmen in zugespitzte Totempfähle.
„Giang Song“, sagen Vietnamesen zu ihrer Heimat – Berg und Fluss. Binh roch Terpentin in den Schwaden auf dem Mekong. Wenige Jahre später gelangte er als Schiffbrüchiger vor Malaysia erst an Bord des Hospitalschiffs Helgoland und dann in das Grenzdurchgangslager Friedland. Die Eingliederung der vietnamesischen Boatpeople in die deutsche Gesellschaft vollzog sich geräuschlos. Doris Steinbrecher begegnete dem freundlich-zurückhaltenden Migranten zum ersten Mal in Fürchtegott Steinbrechers Yoga-Gruppe im evangelischen Gemeindehaus ihrer Geburtsstadt. Doch gab es keine Achtsamkeitsakademie und kein Flow-Center in Mühlacker. Binh verhehlte sein Potenzial. Er verbarg sich förmlich vor den Anfängerinnen mit ihren kulturell determinierten Anlaufschwierigkeiten. Das westliche Ego stand ihnen im Weg. Abhinavagupta schildert die souveräne Yogini als eine Person, die ihre Standpunkte „nicht von der Masse der törichten Lehren in dieser Welt in Zweifel ziehen lässt“. Ihre Position gründet in der „wahren Natur der Dinge“. Auf einem Vorhof der Erleuchtung erlebte sie zum ersten Mal die Gnade. Christopher Wallis spricht von einem „Vorgeschmack auf die Perspektive eines radikal befreiten Bewusstseins“.

Gnade erwartet jede Person, die sie empfangen kann. Eine Voraussetzung für das Glück, Gnade zu erleben, liegt in Aufhebungen der Differenzen zwischen Weltlichem und Spirituellem mit jeder Faser des Seins. Wer sich aber unbeirrbar in der Verfolgung eines eigensinnigen Plans zeigt, mit der Idee, zu wissen, wer er ist, verfehlt den Pfad der Gnade.

Doris verstand Binh als zweiten Navigator auf ihrer Expedition ins Ungewisse. Gemeinsam genossen Doris und Binh Überraschungen sowie einen Schauer erregenden Kirchenorgelrausch im Atheismus. Eine Meisterin spielte sich in Form, und die Liebenden gewannen ein weiters Weißt-du-noch. Binh fiel kein Zacken aus der Krone, wenn Doris ihn an jedem Schalter überholt, um den zahlenden Part zu übernehmen. In ihrer Nähe war Geld (im Damals ihrer Stellung als Millionärstochter) so unvermeidbar wie Kuhscheiße auf dem Weg zur Weide. Binh bat Doris, keine Schuhe mit hohen Absätzen zu tragen. So viel Macho-Ego war dann doch in der transzendierten Persönlichkeit. Wir wittern, warnen, werben und tarnen nach den Vorgaben unseres genetisch-sozialen Strichcodes.

Nackt war die Welt für beide in Ordnung.

P.S.

Heute beherrscht Doris das Yoga-Vokabular in jeder handelsüblichen Größenordnung. Manchmal glaubt sie, von Śaktipāta aufgeschlossen worden zu sein. Dann überkommen sie wieder Zweifel …