Trauzeugenaffäre: Die enge Verflechtung des Ökomilieus

Es war eine denkwürdige Veranstaltung, die vor wenigen Tagen in Berlin stattfand. Die Deutsche Energie-Agentur (DENA) hatte zur Abschiedsfeier für ihren Geschäftsführer Andreas Kuhlmann geladen. Der hätte gerne noch länger an der Spitze des bundeseigenen Unternehmens die deutsche Energiewende begleitet. Doch der Sozialdemokrat Kuhlmann war einst unter einem SPD-Wirtschaftsminister, Sigmar Gabriel, ins Amt gekommen. Der jetzige Hausherr Robert Habeck und sein Energiestaatssekretär Patrick Graichen (beide Grüne) leiteten im vergangenen Jahr eine Neubesetzung des Top-Jobs in die Wege. Eine Entscheidung, die sie heute bereuen dürften.

Julia Löhr

Wirtschaftskorrespondentin in Berlin.

Das Verfahren, aus dem ein enger Freund Graichens als Sieger hervorging, hat Habeck die größte Krise seiner bisherigen Amtszeit eingebrockt. Seit Wochen beherrscht die „Trauzeugenaffäre“ die öffentliche Debatte, die Frage, warum Graichen als Mitglied der Findungskommission für die Stelle seine Beziehung zum Kandidaten Michael Schäfer (Grüne) so lange verschwiegen hat. Die Affäre rückt auch die schon bekannten Verbindungen zwischen der Leitungsebene des Ministeriums und Klimaschutzorganisationen zurück ins Licht der Öffentlichkeit. Immer neue Details zum grünen Netzwerk werden bekannt, die Opposition spricht von „Clanwirtschaft“. Mit bangem Blick schauen die Grünen auf die Landtagswahl am Sonntag in Bremen. In den Umfragen ging es für sie zuletzt rapide bergab.

„Die Grünen sind angetreten mit dem moralischen Anspruch, alles besser zu machen“, sagt Wolfgang Muno, Politikwissenschaftler an der Universität Rostock. „Jetzt stellt sich heraus: Sie sind gar nicht anders, sondern eine Partei wie jede andere auch.“ Eine Partei, die, wenn sie an der Regierung ist, Schlüsselpositionen nicht nur nach Qualifikation, sondern auch nach Parteibuch und persönlicher Verbundenheit vergibt. Eine Partei, die jede Stellschraube nutzt, um ihre politische Agenda durchzusetzen. „Von der CSU hätte man so ein Verhalten erwartet“, sagt Muno, „von den Grünen nicht.“

Denkfabriken wollen Einfluss auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nehmen

Das grüne Netzwerk hat drei Ebenen, die miteinander verwoben sind: eine persönliche, eine inhaltliche und eine finanzielle. Eine Schlüsselfigur auf der persönlichen Ebene ist Rainer Baake. Er war vor zwanzig Jahren beamteter Staatssekretär des ersten grünen Bundesumweltministers Jürgen Trittin. Sein persönlicher Referent zu dieser Zeit: ein gewisser Patrick Graichen. Im Jahr 2012 wird Baake Direktor der neuen Organisation Agora Energiewende. Graichen folgt ihm, wird erst Baakes Stellvertreter, später Direktor. Bis Habeck ihn als Staatssekretär in sein Superministerium für Wirtschaft und Klimaschutz holt.

Das Modell von Denkfabriken wie Agora Energiewende stammt aus Amerika. Gemeinsam ist ihnen, dass sie Einfluss auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nehmen wollen. Sie sind also nicht Beobachter und auch keine unabhängigen Wissenschaftler, sondern Akteure. Ihr Gestaltungsanspruch verfolgt ein Ziel. Als Vereine, Stiftungen oder gemeinnützige GmbH verfasst, wollen sie keine klassischen Lobbyorganisationen sein. Sie sind es aber durchaus und tauchen im Transparenzregister der EU ebenso auf wie im Lobbyregister des Bundestags. „Ob jemand von Agora Energiewende oder vom BDI einen Staatssekretärsposten bekommt, ist letztlich das gleiche“, sagt Politikwissenschaftler Muno. „In beiden Fällen handelt es sich um Lobbyismus. Lobbyismus für den Klimaschutz ist auch nicht per se gut und Lobbyismus für Wirtschaftsinteressen schlecht. Das ist immer eine Frage des Blickwinkels.“

Habeck und Graichen sind umgeben von Menschen, die dieselbe Agenda teilen. Zuerst war es der Atomausstieg, jetzt ist es die Klimaneutralität Deutschlands bis 2045. Graichens Schwester Verena und sein Bruder Jakob arbeiten im Öko-Institut. Verena Graichen ist zugleich stellvertretende Vorsitzende der Naturschutzorganisation BUND. Sie ist verheiratet mit einem der parlamentarischen Staatssekretäre im Ministerium, Michael Kellner, früher Geschäftsführer der Grünen. Als Abteilungsleiter zur Umsetzung der Wärmewende haben Habeck und Graichen Christian Maaß engagiert, Mitgründer des Hamburg Instituts, das sich ebenfalls der Umsetzung der Energiewende verschrieben hat. Zum Chef der Bundesnetzagentur ernannten sie den Grünen Klaus Müller. Michael Schäfer, der DENA-Chef werden sollte (es jetzt aber nicht mehr wird), ist ein NABU-, WWF- und Agora-Energiewende-Gewächs. Baake wiederum, mit dem alles anfing, leitet heute die Stiftung Klimaneutralität und ist Habecks Sonderbeauftragter für die deutsch-namibische Klimakooperation. Man kennt sich, man schätzt sich, man fördert sich. Ein Grünen-Kenner, der nicht zitiert werden will, spricht von einem „closed shop, in dem Ideologie vor Rationalität geht“.

Die Konzepte von Agora haben in Berlin Gewicht

Die Denkfabriken finanzieren sich einerseits durch Zuschüsse und Aufträge des Bundes. Die Plattform Smart Energy for Europe, die hinter der Agora Energiewende steht, bekam 2021 2,2 Millionen Euro von der öffentlichen Hand, das Öko-Institut 3 Millionen Euro, der BUND 1,7 Millionen Euro. Diese Zahlen stammen aus der Zeit der großen Koalition, sind also unverdächtig, mit dem grünen Milieu zusammenzuhängen. In der jetzigen Legislaturperiode hat die öffentliche Hand laut Habecks Ministerium dem BUND 600.000 Euro und dem Öko-Institut 1,9 Millionen Euro zugesagt. Hinzu kamen für Letzteres 3,6 Millionen Euro an Aufträgen nach Ausschreibungen, allein 2,3 Millionen für das Vorhaben „Wissenschaftliche Unterstützung Klimapolitik und Maßnahmenprogramm“. Graichen ist an solchen Auftragsvergaben nicht beteiligt, das hat das Ministerium in seinen Compliance-Regeln festgelegt. Tatsächlich gibt es jenseits der Trauzeugenaffäre keine Hinweise auf ein Fehlverhalten.

Die finanzielle Schlagkraft von Graichens früherem Arbeitgeber Agora Energiewende ist zuletzt deutlich gestiegen. Nach Angaben der Gesellschaft nahmen die öffentlichen und privaten Spenden an die Muttergesellschaft Smart Energy for Europe 2022 um fast 27 Prozent auf 19 Millionen Euro zu. Während die Zuflüsse des Umweltministeriums bei etwa 1,4 Millionen stagnierten, stiegen jene aus dem Wirtschaftsministerium um 85 Prozent auf 1,7 Millionen Euro. Den Löwenteil der Mittel steuern indes private Geldgeber bei. Einer der europäischen Gesellschafter der Organisation ist die European Climate Foundation, hinter der unter anderem die Ikea-Stiftung steht. Außerdem ist da noch die Stiftung Mercator mit der Familie Schmidt-Ruthenbeck, ihres Zeichens Großaktionär des Metro-Konzerns.

Die größten Unterstützer kommen aber aus den Vereinigten Staaten. Die Climate Imperative Foundation aus San Francisco stieg im vergangenen Jahr mit 5,9 Millionen Euro zum größten Financier auf. Dahinter steckt der Investor und Philanthrop Hal Harvey, einer der wichtigsten Strippenzieher in der internationalen Klimaszene. Zu seinem weit verzweigten Stiftungsnetz gehört auch die Climate Works Foundation. Sie hat schon mehr als eine Milliarde Dollar verteilt, unter anderem an den Agora-Eigner European Climate Foundation. Harvey war auch deren Mitinitiator. Gleiches gilt für Baakes Stiftung Klimaneutralität, in deren Beirat er sitzt. Dort ist auch der Agora-Mitbegründer und ehemalige Mercator-Chef Bernhard Lorentz zu finden. Mit seinen vielen Ökoaktivitäten gilt er als der kleine deutsche Bruder von Harvey. Die zweite Geschäftsführerin der Stiftung neben Baake ist die ehemalige Grünenpolitikerin Regine Günther. Sie ist verheiratet mit Felix Matthes, dem einflussreichen Forschungskoordinator des Öko-Instituts.

Was an Konzepten aus der Agora kommt, hat in Berlin Gewicht. Zumindest in den grünen Ministerien. Das zeigt sich in der Novelle des Gebäudeenergiegesetzes, dem „Heizungshammer“. Die Vorlage für den Ausstieg aus der Wärmeerzeugung mit Gas und Öl lieferte die Agora schon 2017 mit ihrem Konzept „Wärmewende 2030“. Um die Klimaziele zu erreichen, benötige Deutschland bis zu sechs Millionen Wärmepumpen, hieß es dort nach einem Vorwort Patrick Graichens. Im Sommer 2021 veröffentlichte Agora ein weiteres Konzept: „Gebäudekonsens für Klimaneutralität“. Der Neueinbau von Gas- und Ölheizkesseln solle „ab dem Jahr 2024 weitgehend verboten“ werden, so die Forderung. Und: „Im Neubau wird ein Standard als Niedrigstenergie-Gebäudestandard etabliert, der sich am KfW-40-Standard orientiert.“

Diese Konzepte werden jetzt Regierungshandeln. Von Anfang 2024 an soll jede neu eingebaute Heizung zu 65 Prozent mit erneuerbaren Energien laufen, so steht es in der vom Kabinett beschlossenen Novelle des Gebäudeenergiegesetzes. Das Gesetzgebungsverfahren für den strengeren Neubaustandard soll im Herbst starten. Ob der Gesetzentwurf so durchgeht, wie Graichens Leute ihn geschrieben haben, ist allerdings zweifelhaft. Im Bundestag stemmen sich sowohl die Opposition als auch die FDP gegen das Regelwerk und die damit verbundenen Mehrkosten für Eigentümer. Die Ministerpräsidenten der Länder sind ebenfalls nervös angesichts der breiten öffentlichen Ablehnung. Habeck signalisiert inzwischen Offenheit für einen etwas späteren Starttermin. An der grundsätzlichen Umstellung auf Wärmepumpen soll sich aber nichts ändern. Auch deshalb will er Graichen bislang unbedingt halten. Fällt dieser, könnten die grünen Transformationspläne ins Wanken geraten. Zumal Habeck schwer wieder jemanden aus dem grünen Netzwerk berufen könnte, ohne dass die Debatte von vorne losgeht.

„Die Agenda scheint recht festgelegt“

Dass die Denkfabriken immer größeren Einfluss auf die Politik nehmen, stößt in der Wissenschaft auf Skepsis. „Sachinformationen sind im akademischen Bereich besser angesiedelt als in Thinktanks, die eine bestimmte Stoßrichtung verfolgen“, sagt Andreas Polk, Mitherausgeber des „Handbuchs Lobbyismus“ und Ökonomieprofessor an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin. „Schließlich sind unabhängige Hochschulen nur der Forschung und Lehre verpflichtet.“ Er findet aber nicht, dass die Einflussnahme von Klimaschützern seit der Regierungsbeteiligung der Grünen überhandnimmt. Früher habe der „Inside-Lobbyismus“ dominiert, etwa das Lobbyieren der Autoindustrie auf Autogipfeln im Kanzleramt. Die Zivilgesellschaft habe hauptsächlich „Outside-Lobbyismus“ durch Mobilisierung der Öffentlichkeit betreiben können, nicht zuletzt mit Hilfe der Denkfabriken. „Jetzt wird in der Bundesregierung endlich auch diese Seite gehört“, sagt Polk.

Reint Gropp, Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle, beobachtet dagegen schon eine „Schlagseite im Haus von Robert Habeck“. Unter den früheren Wirtschaftsministern von CDU und SPD habe es mehr Austausch mit Ökonomen gegeben, moniert der Volkswirtschaftsprofessor. „Die Agenda scheint recht festgelegt, und man lässt sie sich immer wieder bestätigen.“ Gropp engagiert sich deshalb im wissenschaftlichen Beirat des neu gegründeten Forums für Klima, Energie, Mobilität und Bauen, einer Art Anti-Agora.

Vorsitzender dort ist ein Liberaler, der ehemalige FDP-Abgeordnete Martin Neumann. Als Professor für Technische Gebäudesanierung in Stendal kennt er sich mit Heizungen und energieeffizientem Bauen aus. In dem Forum vertreten ist aber auch der Gießener Sozialwissenschaftler Hubert Kleinert, einst parlamentarischer Geschäftsführer der Bundestagsfraktion der Grünen. Das Forum zeigt für Neumann nicht nur in seiner Zusammensetzung, dass es überparteilich ist, sondern auch in der Themenbreite. „Wir teilen die Ziele der Klimabewegung, es ist doch klar, dass der CO2-Ausstoß sinken muss“, sagt er. „Aber beim Wie, beim Weg dorthin, darf man nicht so verbohrt sein wie diese Blase.“ Habecks Weg der Verbote gefährde die Akzeptanz der Energiewende und damit deren Erfolg, fürchtet er. Das Dreieck zwischen Versorgungssicherheit, Klimaschutz und Preisen sei aus den Fugen geraten. Um es wieder zurechtzurücken, seien mehr marktwirtschaftliche Ansätze nötig. Noch ist Neumanns farbenfrohes Netz nicht annähernd so stark wie das der Grünen. Aber ein Anfang ist geknüpft.