Parlamentswahl in Georgien: Richtung Europa oder Richtung Russland?

An diesem Wochenende könnte der „Georgische Traum“ enden – und ein neuer beginnen: Die gleichnamige Partei, die seit mehr als einem Jahrzehnt das kleine Land im Südkaukasus regiert, könnte bei der Parlamentswahl an diesem Samstag ihre Mehrheit an die proeuropäische Opposition verlieren. Doch trotz eines breiten Oppositionsbündnisses ist der Ausgang der Wahl ungewiss. An dem Ergebnis hängt für die Georgierinnen und Georgier die entscheidende Frage, ob ihr Land näher an Europa rückt oder auf dem zunehmend russlandfreundlichen Kurs der bisherigen Regierung bleibt.

Wie groß ist der Einfluss der russischen Regierung auf die Wahl? Welche Rolle spielt der reichste Mann Georgiens? Und wogegen protestiert die georgische Opposition seit Monaten? Die wichtigsten Fragen zur Parlamentswahl im Überblick.

Was wird in Georgien gewählt?

„Wir haben quasi ein Referendum über die Wahl zwischen Europa oder der Rückkehr zu einer unsicheren russischen Vergangenheit.“ Mit diesen Worten beschreibt Georgiens Präsidentin Salome Surabischwili, eine Kritikerin der Regierungspartei, worum es bei der Wahl geht. Die Georgierinnen und Georgier stimmen über die Zusammensetzung ihres Parlaments ab – und fällen damit eine Richtungsentscheidung.

Die Wahl könnte die Partei Georgischer Traum, die seit zwölf Jahren regiert, in die Opposition verbannen. Es wäre das Ende einer – in den Worten der Staatschefin Surabischwili – „immer offener antiwestlichen, antieuropäischen“
Entwicklung, die Georgien unter der aktuellen Regierung durchgemacht hat.

Die Wahl könnte jedoch auch die Hoffnung der Opposition zerstören, sich mit ihrem proeuropäischen Kurs durchzusetzen. Das würde die Macht des Georgischen Traums festigen und den noch jungen EU-Beitrittsprozess der ehemaligen Sowjetrepublik nachhaltig in Gefahr bringen. Auch deshalb sind sich viele Beobachter einig: Bei dieser Parlamentswahl handelt es sich um eine historische Wahl.

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Wie ist die politische Situation in Georgien vor der Parlamentswahl?

Die Regierungspartei Georgischer Traum hat für die Parlamentswahl ein klares Ziel: Sie will die absolute Mehrheit erreichen, um nach der Wahl die prowestliche Opposition per Verfassung verbieten zu können.

„Eine Regierungspartei, die damit droht, Oppositionsparteien zu
verbieten, ist zum Scheitern verurteilt“, sagt Tinatin Bokutschawa,
Vorsitzende der größten Oppositionspartei Georgiens ENM (Vereinte Nationale
Bewegung). Dem Georgischen Traum wirft Bokutschawa vor, er sei „überhaupt nicht georgisch, sondern prorussisch“. Bei der Wahl würden die Georgierinnen und Georgier daher „das europäische Schicksal des Landes sowie seine Demokratie verteidigen und den Georgischen Traum loswerden“.

Die ENM des inhaftierten Ex-Präsidenten Micheil Saakaschwili
wirbt hingegen für einen EU- sowie einen Nato-Beitritt Georgiens. Um der
Übermacht der Regierung etwas entgegensetzen zu können, hat sie sich vor
der Parlamentswahl mit anderen Oppositionsparteien zu einem
proeuropäischen Bündnis zusammengeschlossen. Dazu gehört neben mehreren
kleinen Parteien auch die erst kürzlich gegründete Achali, eine Partei
ehemaliger ENM-Mitglieder.

Das Bündnis plant weitreichende
Reformen in Justiz, Strafverfolgung und Wahlrecht. Im Falle eines
Wahlsiegs will es eine Übergangsregierung bilden, die die
Reformen umsetzen soll, und im Anschluss Neuwahlen ausrufen.

Franziska Smolnik, Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Osteuropa
und Eurasien der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin, bezeichnet die Wahlkampagne als sehr polarisiert. „Aufseiten des Georgischen Traums wird die Wahl zu einem Referendum über Krieg und Frieden stilisiert“, sagt Smolnik. Von den Oppositionsparteien hingegen werde die Parlamentswahl dargestellt als ein Referendum zwischen einem Weg in die EU einerseits „und einem Verbleib im russischen Orbit andererseits“.

Doch bei Weitem nicht alle Wählerinnen und Wähler treffen ihre Entscheidung ausschließlich anhand der Orientierung Richtung Europa oder Russland. „Das Narrativ des Referendums ist etwas, was auch die Parteien selbst ins Feld führen. Es reflektiert jedoch nicht unbedingt die Alltagssorgen der Georgierinnen und Georgier“, sagt Smolnik. Vielen Menschen gehe es vielmehr um „sozioökonomische Fragen“. Seit Jahren leidet die Bevölkerung Georgiens unter einer Inflation und anderen wirtschaftlichen Problemen, wie dem Mangel an bezahlbarem Wohnraum.

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Mischt sich Russland in die Politik Georgiens ein?

Georgien ist vom sowjetischen System geprägt
und hat vor allem durch seine geografische Lage viele
Berührungspunkte mit Russland. Im Norden gibt es eine gemeinsame
Grenze mit Russland, das auch die zwei abtrünnigen Gebiete Abchasien und
Südossetien politisch, militärisch und wirtschaftlich unterstützt.
Wirtschaftlich gibt es zudem eine große Abhängigkeit Georgiens von
Russland, besonders in der Landwirtschaft.

Russland weiß
diese Abhängigkeit für sich zu nutzen – und versucht, sich indirekt in
den Wahlkampf einzumischen. Nur wenige Wochen vor der Parlamentswahl
kündigte die Regierung in Moskau etwa Visaerleichterungen für
Georgier und Georgierinnen an. Zudem bot Russland wie aus dem Nichts an,
Südossetien und Abchasien mit Georgien versöhnen zu
wollen.

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Wie viel Einfluss hat Bidsina Iwanischwili in Georgien und was ist der „Georgische Traum“?

Seit 2012 hat die Partei Georgischer Traum die Mehrheit im georgischen Parlament. Zu seiner Anfangszeit als Parteienbündnis galt der Georgische Traum als sozialdemokratisch und verfolgte einen liberalen, prowestlichen Kurs. Inzwischen ist seine Ausrichtung eher nationalkonservativ. In den vergangenen Jahren wandte sich die Partei zudem nach Einschätzung von Kritikern verstärkt Russland zu. Hinter dieser Entwicklung steht auch der Milliardär Bidsina Iwanischwili, der den Georgischen Traum einst gründete. Auch heute noch spiele er „eine entscheidende Rolle“, sagt SWP-Wissenschaftlerin Smolnik. So führe er aktuell die Kandidatenliste der Partei an und sei seit Anfang des Jahres ihr Ehrenvorsitzender.

Iwanischwili machte sein Vermögen nach dem Ende der
Sowjetunion in Russland mit Computern und anderen elektronischen Geräten. Zudem gründete er eine Bank. Der Erfolg seiner Geschäfte ist auch auf seine guten Kontakte in den obersten russischen Regierungskreisen zur Zeit von Boris Jelzin zurückzuführen. In den Nullerjahren zog sich Iwanischwili aus Russland zurück, verkaufte sein Business und widmete sich verstärkt seinem Heimatland Georgien. Heute hat er ein Privatvermögen von rund fünf Milliarden US-Dollar. Das entspricht ungefähr einem Fünftel des Bruttoinlandsprodukts des gesamten Landes.

Ab 2012 war Iwanischwili ein gutes Jahr lang Regierungschef Georgiens, zog sich dann aber weitgehend aus der Politik zurück – zumindest offiziell. Anfang 2024 kündigte er seine Rückkehr in die Politik an. Iwanischwili besitzt aktuell kein politisches
Mandat, ist aber im Hintergrund präsent und konnte zudem ihm loyale
Menschen in wichtige Positionen bringen.

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Wogegen protestieren die Menschen in Georgien?

Widerstand gegen die georgische Regierung gibt es nicht nur auf parlamentarischer Ebene, sondern auch auf der Straße. So kamen wenige Tage vor der Parlamentswahl Zehntausende Menschen zu Protesten in Tbilissi zusammen. Unter dem Motto „Georgien wählt die Europäische Union“ versammelten sie sich an verschiedenen Plätzen in der Hauptstadt und zogen zu einer großen Abschlussveranstaltung auf dem Freiheitsplatz. Auch Präsidentin Surabischwili nahm teil.

Besonders groß waren die wochenlangen Proteste gegen zwei Gesetzesinitiativen des Georgischen Traums. Zunächst sorgte die Regierung im Frühsommer für Aufsehen: Gegen den Widerstand der Opposition, der Präsidentin und der Demonstrierenden erließ sie, nach russischem Vorbild, ein Gesetz, das angeblich für Transparenz bei der ausländischen Einflussnahme auf Nichtregierungsorganisationen sorgen soll. Kritiker sehen darin, wie bei dem ähnlichen Gesetz in Russland, einen Mechanismus, der die kritische Zivilgesellschaft kontrollieren und Oppositionelle unterdrücken soll. Im Oktober folgte ein Gesetz, das offiziell „Familienwerte“ schützen soll. De facto schränkt es die Rechte queerer Menschen und sexueller Minderheiten stark ein.

Analystin Smolnik von der SWP bezeichnet die Proteste als „sehr weitreichend“ – auch weil sie weit über die Hauptstadt Tbilissi hinausgingen. „Georgien ist ein Land mit nicht einmal vier Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern. Bei den Protesten haben Berichten zufolge in der Spitze bis zu 200.000 Menschen teilgenommen. Das ist wirklich ein sehr großer Teil“, sagt die Wissenschaftlerin. Den Demonstrationen hätten sich insbesondere junge Leute angeschlossen. Nun sei die Frage, wie viele von ihnen als Erstwählerinnen und Erstwähler ihre Stimme bei der Parlamentswahl abgeben.

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Wie stehen die Chancen der Opposition bei der Wahl in Georgien?

Verlässliche Umfragen zur Parlamentswahl in Georgien gibt es nicht. Das US-Meinungsforschungsinstitut Edison Research sah das Oppositionsbündnis zuletzt mit 55 Prozent der Stimmen in Führung. Die Regierungspartei liegt demnach bei rund einem Drittel der Stimmen. Allerdings kommen georgische Medien teils zu sehr anderen Umfrageergebnissen, in denen der Georgische Traum deutlich vorn liegt.

Dennoch trägt die in der Protestbewegung der vergangenen Monate spürbare proeuropäische Stimmung dazu bei, dass sich die Oppositionspartei ENM und ihre Bündnispartner Chancen ausrechnen, die aktuelle Regierung abzulösen. Sollte es dazu kommen, wäre das ein großer Erfolg für die Opposition. Um handlungsfähig zu sein, müsste sie sich jedoch bemühen, ihre bündnisinternen Streitigkeiten und Grabenkämpfe beizulegen, die in der Vergangenheit unter anderem zu Parteiabspaltungen führten.

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Welchen Einfluss haben die Wahlen auf einen möglichen EU-Beitritt Georgiens?

Georgien strebt schon seit Jahrzehnten eine EU-Mitgliedschaft an. Das Land hatte als eines der ersten in der Region 2014 ein Assoziierungsabkommen mit der EU
unterzeichnet. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Jahr 2022 stellte die Regierung in Tbilissi dann einen Antrag auf den EU-Beitritt. Der Wunsch nach einer Mitgliedschaft in der Union ist auch in der Bevölkerung sehr groß: Laut einer georgischen Umfrage aus dem Jahr 2023 befürworten sie knapp 90 Prozent.

Ende 2023 wurde dem Land schließlich der Kandidatenstatus zugesprochen – wohl auch aus geopolitischen Gründen. Doch schon wenige Monate später, im Juni 2024, wurde das Vorhaben wegen des verabschiedeten Gesetzes gegen „ausländische Einflussnahme“ vorerst gestoppt. „Die EU hat anlässlich der Annahme des Gesetzes gesagt, dass das mit dem weiteren Weg in die EU nicht vereinbar ist“, sagt SWP-Wissenschaftlerin Smolnik. Gleiches gelte für die Ankündigung des Georgischen Traums, im Falle eines Wahlsiegs wesentliche Oppositionsparteien zu verbieten. Zuletzt habe sich in Georgien eine „autoritäre Wende“ angedeutet. „Die Entwicklungen der letzten Wochen und Monate und die Maßnahmen des Georgischen Traums, auch die antiwestliche Rhetorik, die von den westlichen Partnern zurückgewiesen wurde, stehen einem weiteren Vorrücken auf dem Weg der EU-Integration entgegen“, sagt die Expertin für den Südkaukasus.

Die Hoffnung vieler Menschen in Georgien liegt nun auf der proeuropäischen Opposition. Doch auch bei einem möglichen Wahlsieg gäbe es noch einige Herausforderungen, bevor die Verhandlungen wieder aufgenommen werden können. Vor allem fordert die EU eine Reform, die künftig die Unabhängigkeit der Justiz gewährleistet. Und es gibt noch eine weitere Hürde: den ungelösten Konflikt mit Russland über die abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien.

Wichtig sei die Wahl nicht nur für die Georgierinnen und Georgier, sagt Smolnik. „Bislang war Georgien – trotz der zuletzt schwierigen Situation zwischen Georgien und den westlichen Partnern – der engste Partner der EU in der Region.“ Deshalb sei auch für die Europäische Union von großer Bedeutung, wie die Wahl verläuft – „und vor allem, wie es danach weitergeht in Georgien“.

Mit Material der Agenturen AFP, dpa, KNA und Reuters.

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