Nach antirussischem Eklat zeigt Toulouse „Eugen Onegin“

Was für ein ehrfurchtgebietendes „Lenski!“, das durch den Salon rauscht, über die aufgebrachte Festgesellschaft, die schmierigen Soldaten und aufgetakelten Damen hinweg, die den unförmigen Tanz der Ausgelassenen tanzen! Genau dem ins Gesicht, für den es gedacht ist! Dabei soll es Lenski doch eigentlich in seiner Eifersucht besänftigen. Der kann nur beleidigt zurückspucken, vor die Füße seines einstigen Freundes, der ihn so „gekränkt“ habe. Onegin, der Zyniker, lacht, klatscht weiter im Takt. Das abscheuverzerrte Gesicht seines Freundes interessiert ihn nicht. Später kehrt er zurück, rauchend und angewidert von allem Bürgerlichen.

Kein Zweifel, wer hier Alpha- und wer Betamännchen ist. Dass Stéphane Degout als Onegin anderthalb Köpfe größer ist als Bror Magnus Tødenes als Lenski, ist der biologische Beitrag zur Figurenregie – keine musikalische Hierarchie. Beide sind beängstigend großartig. Der französische Regisseur Florent Siaud schließt mit „Eugen Onegin“ die Spielzeit am Théâtre du Capitole in Toulouse. Er zieht Peter Tschaikowskys „lyrische Szenen“ dramaturgisch gestrafft als bürgerliches Trauerspiel auf, mit der Jovialität der Haute société und viel Schwulst und Pomp. Das ist nicht immer stimmig.

Erst kam die Pandemie, dann noch der Krieg

Die Aufführung der Produktion war für 2021 geplant – sie hätte Degouts Rollenpremiere für den „Onegin“ werden sollen. Er feierte sie stattdessen 2023 in der Brüsseler Monnaie. In Toulouse kam die Pandemie dazwischen – und ein Eklat um den russischen Dirigenten Tugan Sokhiev, der seit 2008 Musikdirektor des Orchestre national du Capitole de Toulouse (ONCT) und seit 2014 Musikdirektor des Moskauer Bolschoi-Orchesters gewesen war.

Sokhiev legte Anfang 2022 beide Ämter nieder. Der Bürgermeister von Toulouse, Jean-Luc Moudenc, hatte ihn öffentlich aufgefordert, gegen den Krieg in der ­Ukraine Stellung zu beziehen. Auch ist man gegen sein „Festival franco-russe“ vorgegangen. Der Fall stieß eine Diskussion um die Positionierung russischer Musiker in Frankreich im Angesicht des Ukrainekriegs an – und um den gesellschaftlichen Umgang mit russischer Kultur. Die Musiker des ONCT stellten sich damals auf die Seite ihres Dirigenten.

Russlandkitsch und Sowjetästhetik

Nicht nur, überhaupt wieder Tschaikowsky in Toulouse zu hören, überrascht daher, sondern auch, dass man schon weniger russischtümelnde Onegins gesehen hat: nichts zu sehen von einer Distanz zu dem, was dem in Stereotypen und Folkloren denkenden Menschen in den Kopf rauscht, wenn er „Russland“ hört. Jean-Daniel Vuillermoz verpasst dem Chor im ersten Akt Bauernkostüme wie aus einem sowjetischen Film. Die Pflücker kommen ins Haus der Larina, begleitet vom guten Gewissen des russischen Landes: der orthodoxen Popen-Clique, mit langen Bärten und Ikonen in den Händen.

Das Ensemble von „Eugen Onegin“
Das Ensemble von „Eugen Onegin“Mirco Magliocca

Tatjanas Liebesfieber quittiert ihre Amme mit hysterischem Bekreuzigen – orthodox, versteht sich, dreimal mit drei Fingern, zuerst nach rechts, nicht nach links. Onegin trinkt, nachdem er Tatjana paternalistisch einen Korb gegeben hat, einen männlichen Schluck Tee aus dem Samowar, der auf dem Beistelltisch inmitten cremefarbener Spießigkeit steht, und die Festgesellschaft trägt die grünen Uniformen der zaristischen Armee. Zu der ohnehin ubiquitären Schwermut des „Onegin“ kommt die Erinnerung an eine Zeit, in der solche Stilmittel außer Kitsch keinen Beigeschmack hatten.

Es gibt Opern, die so dicht sind, dass jeder Versuch scheitert, sie weiter aufzufüllen – und es gibt unverbindlichere, die mehr inszenatorischen Spielraum bieten. „Eugen Onegin“ gehört zu den Letzteren. Siauds Interpretation hilft der Inszenierung dennoch nicht. Er wählt eine herkömmliche Opernästhetik, überlädt die Bühne mit melodramatischem Abendkleid-Champagner-Kitsch, Balletttänzerinnen, die zusammen mit Tatjanas Liebe sterben, und einem Lenski, der auf der Todesschwelle sogar Olgas Bild betrachtet. Stellenweise geht es in die Richtung, in die Tschaikowsky sein Werk gerade nicht verstanden haben wollte, in Richtung Grand opéra. Das ist keine Inszenierung, um jemanden vom Gegenteil zu überzeugen, der Oper ohnehin für Bombast hält.

Auf die Musik ist Verlass

Andererseits rückt er mit Zitaten aus Puschkins Vorlage die „Szenen“ in einen stärkeren Zusammenhang. Hologrammartig erscheinen vor den Tableaus mal Kalendersprüche, mal ironische Kommentare – „Wo sind wir glücklich? Dort, wo wir nicht sind“ vor dem Duell. Das entspricht vielleicht dem Geist von Puschkins Erzähler, der sein Versepos „Onegin“ weniger ernst nahm als Tschaikowsky, hat aber meist keinen Mehrwert. Auch das in zwei Hälften geteilte Bühnenbild, oben wahlweise als Wald, Nebenzimmer oder Oberbewusstsein mit blinzelnden Gesichtern, wirkt eklektisch, von der Handlung ablenkend. Siaud hätte sich stärker auf die Musik verlassen können.

Das tut dem imposanten musikalischen Niveau keinen Abbruch. Der deutsche Dirigent Patrick Lange springt für den Ungarn Gábor Káli ein. Er steht ihm in nichts nach: Sein Orchester klagt Tschaikowskys melancholische Phrasen – bezeichnend das Cellosolo zu Beginn des zweiten Akts –, auch der Chor ist in Bestform. Die Ukrainerin Valentina Fedeneva brilliert als lyrische Tatjana, die mehr Witz und Herz hat, als man gewohnt ist, und Onegin findet zwei Gegenentwürfe zu sich, nicht nur Tødenes’ schmierigen Lenski, der selbst beim Wehklagen in seiner Arie im zweiten Satz – „Die Welt wird mich vergessen“ – nie ganz sympathisch wird, sondern auch Andreas Bauer Kanabas als Fürst Gremin, der mit seinem gebieterischen Bass in der Ges-Dur-Arie den „General mit ergrauendem Kopf“ gar nicht spielen muss.

Über allem steht Degout. Er zeigt, warum er zu den besten Sängern Europas gehört: nicht nur ein verbitterter und zynischer Großstadtschnösel, sondern ein „Verliebter im falschen Moment“ (André Markowicz), dem Spotten und Klagen gleich gut liegen. Die Wendung in der letzten Sekunde: Der Titelheld stirbt hinter dem Vorhang, ein musikalischer Rausch, Tatjana lebt weiter – davor. Sie sieht triumphierend aus.

Source: faz.net