Ludwig Erhard solange bis Hugo Loetscher: Zeitzeugen, die Geschichte prägten

Ludwig Erhard erfuhr lange für seine Wirtschaftswunder-Politik nahezu Heiligenverehrung. Daran änderte nichts, dass man später bei der Herkunft der sozialen Marktwirtschaft auf die ausgehende Nazizeit hinwies. Nur die drei eher unglücklichen Jahre von Oktober 1963 bis November 1966 als Nachfolger Konrad Adenauers beulten sein Image. Das hat ihn nachhaltig gekränkt, zumal er meinte, dass das der Unnachgiebigkeit seiner Partei gegenüber seinem Konzept der „Formierten Gesellschaft“ geschuldet war, in dem alle Einzelinteressen dem Gemeinwohl untergeordnet sind. So hat er knapp zehn Jahre später eine Art Memoir seiner Kanzlerzeit verfassen lassen. Vom umstrittenen CSU-Journalisten Jonny Klein. Dies Typoskript ist nun zu lesen. 119 Seiten.

Die zweite Hälfte enthält eine Situierung Erhards in das „Ende der Nachkriegszeit“, was dem Buch zusätzlich Gewicht als Dokument zur Zeitgeschichte gibt. Nichts Sensationelles liest man, doch viele aufschlussreiche Details, zum transatlantischen Verhältnis oder zur fatalen Rolle der Lobbyisten-FDP. Auch zu Adenauers autokratischem Führungsstil, der seiner nicht war. Oder Lob für die pointierte Bissigkeit der Lach- und Schießgesellschaft, ehe sie in „die Tiefe einfältiger SPD-Agitation“ abstürzte. Zugespitzt: Erst Kohl und dann Merkel lenkten die Union Richtung formierter Gesellschaft 2.0, im Wetteifer mit der sich unionifizierenden SPD …

Ludwig Erhard: Erfahrungen für die Zukunft. Meine Kanzlerzeit Ulrich Schlie (Hg.) Econ 2024, 336 S., 22,99 €

Souverän über Journalismus und Literatur

Hugo Loetscher war bis zu seinem Tod 2009 ein ob seines bissigen Sarkasmus gefürchteter, wegen seiner scharfsinnigen Pointen verehrter Schweizer Intellektueller, ein Souverän über Journalismus und Literatur. Der erste Beitrag in diesem Band, der ihn wieder als ebenso weltläufig wie bodenständig in Erinnerung bringen soll, verteidigt das Redaktionsbüro gegen Schulstube und Kanzel als genuinen Schweizer Literaturort. Er meint damit nicht „Abstecher-Literatur“ oder die Ich-auch-Romane von Journalisten. Auch nicht wie in dem Band So wenig Buchstaben und so viel Welt, der Loetschers Texte versammelt, die zwischen 1974 und 2008 erschienen sind. Loetscher plädiert für die freie Liebe beider – so wie er sie als Dramatiker, Lyriker, Romancier und eben Feuilletonist und Reporter betrieb.

Sein literarischer Journalismus hütete sich vorm gravitätischen Wir wie vorm ungehemmten Ich. Man findet Reportagen aus aller Welt und Essays wie über die Schweiz, durchzogen vom blutroten Faden des Kolonialismus. Nur zwei seien darunter exemplarisch genannt – das lusitanische Dreieck von Portugal, dessen afrikanischen Kolonien und Brasilien. Mit scharfem Blick auf die Freiheitsbewegung, die in Tyrannei endet. Oder, unter der Aktualitätslupe: 2001 Leningrad/St. Petersburg – einerseits eine ausgestellte Karte, mit der das Oberkommando der Wehrmacht zur dann ausgefallenen Siegesfeier lud, andererseits eine nun wieder als solche genutzte Kirche, die zwischenzeitlich sowjetisches Schwimmbad gewesen war. 1996 Kiew, zu Sowjetzeiten zur drittgrößten Stadt gemacht und seit je von fremden Mächten besetzt. Loetschers Reportagen und Essays sind Momentaufnahmen zur besten Zeit, der, „in der die Kastanien blühen“, atemlos angereichert mit historischen Reminiszenzen.

Hugo Loetscher. So wenig Buchstaben und so viel Welt. Jeroen Dewulf und Peter Erismann (Hg. u. m. e. Nachwort) Diogenes 2024, 480 S., 29 €

Unbestechliche Beobachtungen

Für mich sind die Tagebücher Thea Sternheims die aufgeschlossensten und zugleich aufschließenden des 20. Jahrhunderts, hellsichtig, schonungslos und teilnehmend zugleich; geführt von 1903 bis zu ihrem Tode 1971, Tausende von Seiten. Zu lesen ist nun eine Auswahl für die Jahre in Paris 1932 bis 1949. Rechtzeitig war Sternheim vor den Nazis dorthin ausgewichen und noch lange darüber hinaus geblieben. Sie war natürlich mit der intellektuellen und künstlerischen Elite bekannt, unbestechlich lesen sich ihre Beobachtungen.

Im Sommer 1942 steht da die dritte Lektüre von Heinrich Manns Untertan – dem sie nun recht geben will in der Karikatur des Untertanengeistes – direkt neben der Erschütterung über die Deportation von Juden. Und so sehr sie sich über die deutsche Kapitulation befriedigt zeigt, so bleibt sie beim „Animalischen“ des Jubels skeptisch, um gleich darauf über ihr abgekühltes Verhältnis zu André Gide zu sinnieren. Die Tagebücher der Pariser Jahre sind prall an Geschichte zwischen Kultur und Politik, Zeugnis einer unbeugsam selbstdenkerischen, höchst klugen Frau!

Thea Sternheim: Die Pariser Jahre. Aus den Tagebüchern 1932 – 1949 Thomas Ehrsam (Hg.) Die andere Bibliothek 2024, 444 S., 48 €

Kulturgeschichte an der Elbe

Hansjörg Küsters Elbe-Buch ist nun schon lange her, wenngleich unter naturgeografischen Aspekten noch immer unersetzbar. Burkhard Müller ging daher in seinem Porträt des Flusses einen anderen Weg, den der erwanderten und erfahrenen Autopsie, der Landschafts- als Geschichts- und Kulturbeschau. Am stärksten ist der Akzent auf dem Oberlauf, von der – diffizilen – Quelle und der Konkurrenz zur Moldau an. Hier findet man eine besonders reichhaltige Kulturgeschichte, komponiert aus eigenen Ansichten und anderer Erinnerungen. Auch weiterhin folgt man bis etwa Stendal ihm gern auf den Wissens- und Assoziationswegen. Danach geht’s etwas hoppladihopp in die Unterelbe, als ob in ihrer Breite die Tiefe verschwände. Höchst empfehlenswert, für Anrainer wie Besucher!

Die Elbe. Porträt eines Flusses Burkhard Müller Rowohlt 2024, 304 S., 26 €