Gedenkpolitik: Ein Papier zum Erinnern
Die scheidende Kulturstaatsministerin Claudia Roth lässt in
ihrem Büro gewissermaßen ein Papier auf dem Schreibtisch liegen, das
interessant zu lesen ist, weil sich an ihm der kulturpolitische Stand des
deutschen Gedenkwesens ablesen lässt. Es resümiert die aktuelle Situation der
Erinnerungsorte und Einrichtungen, welche der dunklen Seite deutscher
Geschichte gewidmet sind, den Staatsverbrechen, Morden und Repressionen. Das
Papier mit dem Titel Aktualisierung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes,
das auf den 26. November 2024 datiert ist und ZEIT ONLINE vorliegt, zieht Bilanz. Und es gibt einen Ausblick, wie die
deutsche Gedenkkultur weiterentwickelt werden könnte, was fehlt und wo sich neuer
Bedarf auftut, weil neuere Forschung und gesellschaftlicher
Perspektivwechsel den Fokus verschoben haben, wie im Fall der deutschen
Kolonialverbrechen.
Das Ensemble der bundesrepublikanischen Erinnerungsorte ist
eine beeindruckende Gesamtinstitution und bildet ein bemerkenswert dichtes Netz von Gedenkstätten.
Es reicht vom einstigen KZ Bergen-Belsen bis zum ehemaligen Zuchthaus Brandenburg-Görden, vom
Stasi-Unterlagen-Archiv bis zum Jugendwerkhof Torgau, enthält Orte, die dem
Gedenken an die Euthanasieopfer, an die verfolgten Sinti oder an die Homosexuellen
gewidmet sind. Die Pflege aller dieser Einrichtungen kostet sehr viel Geld, sie
ist Ländersache, und in den meisten Fällen greift der Bund nur mit Zuschüssen
ein. Doch gibt es einen parteienübergreifenden Konsens, dass dieses Geld gut
angelegt sei. Denn je weiter die Verbrechen insbesondere der NS-Zeit zurückliegen, desto harmloser sehen
sie aus. Den auf wissenschaftlicher Grundlage arbeitenden Gedenkstätten
fällt mehr und mehr die Aufgabe zu, einer jüngeren und diverseren Gesellschaft
zu vermitteln, dass die Gräuel wirklich stattgefunden haben, wer dafür
verantwortlich war und wie sie sich politisch angebahnt hatten. Das ist eine
große Zukunftsaufgabe.
Folglich treten die Vertreter der Gedenkstätten derzeit
recht selbstbewusst auf. Sie haben den Parteienvertretern am 18. März sogar
einen Brief in die laufenden Koalitionsverhandlungen hineingeschrieben; auch
dieses Papier liegt ZEIT ONLINE vor. In dem Schreiben verpflichten sie den Bund
nicht nur auf weitere Finanzierung, sondern fordern auch ein angemessenes neues
Gedenkstättenkonzept ein, das das alte von 2008 ersetzt – und genau ein solches
stellt das neue Papier aus dem Hause Roth dar. Es hätte dem Kabinett Scholz
noch vorgelegt und dem alten Bundestag zur Kenntnis gegeben werden müssen, doch
für beides war es zu spät; die neue Bundesregierung ist noch nicht im Amt, der
neue Bundestag hat sich bereits konstituiert.
Über den Rahmenentwurf für dieses neue
Gedenkstättenkonzept aus dem Hause Roth hatte es vor etwa einem Jahr eine
Kontroverse gegeben, als der Entwurf an die Öffentlichkeit gelangt war. Die
Grüne Roth wollte ausweislich dieses Papiers das Gedenken an den deutschen
Kolonialismus gleichberechtigt neben dem Gedenken an Nationalsozialismus und
SED-Diktatur verankern. Dafür wurde sie von Leitern der bestehenden
Gedenkstätten scharf gerügt: Die bloße zeitgeistige Emphase, an begangenes
Unrecht in Afrika erinnern zu wollen, sei für eine institutionelle
Neuausrichtung nicht hinreichend, ja in der Wirkung sogar
geschichtsrevisionistisch, indem sie die besondere Stellung der Schoah
relativiere; an Orten, wo sich der Kolonialismus tatsächlich und sinnfällig abgespielt
habe, mangele es außerdem in Deutschland ebenso an belastbaren
Dokumentationen, die eine geschichtspädagogische Arbeit ermöglichten.
Mag in
dieser Argumentation auch mitgespielt haben, dass finanzielle
Schlechterstellung für die klassischen Einrichtungen zu befürchten stand, in
einem Punkt hatten die Vertreter der Gedenkorte recht: Die deutsche
Gedenklandschaft sollte nicht vom gerade dominierenden politischen Willen
abhängen und alle paar Jahre von neuen parteilichen Zwecksetzungen zerzaust werden.
Sodass in jenem Brief vom 18. März 2025 auch noch einmal mit Nachdruck die
politische Unabhängigkeit der Gedenkstätten unterstrichen wird.
Der oder die Neue wird das Papier aufmerksam lesen
Jenes Konzeptpapier nun, das Roth hinterlässt, hat diese
Debatte aufgenommen, wird aber keine Wirkung mehr entfalten. Gleichwohl wird es
die neue oder der neue Kulturbeauftragte der Bundesregierung von der Union
aufmerksam lesen. Der am 9. April geschlossene Koalitionsvertrag mit der SPD
jedenfalls enthält einen Passus, der die Aufgabe, ein neues Konzept zu
erarbeiten, ausdrücklich bestätigt. Dort heißt es: „Die Gedenkstättenkonzeption
des Bundes werden wir wissenschaftsgeleitet und im Austausch mit den Akteuren
an die neuen Herausforderungen anpassen und ein bundesweites Kompetenznetzwerk
mit den Gedenkstätten entwickeln.“ (PDF)
Roths Papier fasst nun bereits zusammen, wie es
kulturpolitisch in dieser Sache heute aussieht. Etwas trotzig steht da der
Satz: „Die Verbrechen des deutschen Kolonialismus sollten in diesem
Zusammenhang nicht länger ignoriert werden“, doch mehr als diese allgemeine
Programmatik enthält das Konzept kaum, und von „Ignorieren“ kann wohl künftig
niemand mehr sprechen. Und auch wenn es heißt: „Ein wesentliches Ziel ist es,
einen Lern- und Erinnerungsort zur Auseinandersetzung mit dem deutschen
Kolonialismus einzurichten“, bleibt das so unbestimmt, dass kein Amt der Welt
sofort mit Vorbereitungen beginnt.