EU-Schulden: Lindner zieht den 7-Jahre-Joker dieser EU – WELT

Ausgerechnet der Verfechter harter EU-Schuldenregeln bekommt selbst Probleme mit den neuen Vorgaben aus Brüssel. Ungelegen kommt dies dem Finanzminister nicht. Mit Verweis auf Brüssel kann Lindner seine Ampel-Partner zu Wirtschaftsreformen drängen und Zugeständnisse fordern.
Noch Anfang vergangener Woche klang es so, als ob Finanzminister Christian Lindner (FDP) einige seiner europäischen Kollegen wegen ihres laxen Umgangs mit den neuen EU-Schuldenregeln maßregeln wolle. „Wir sehen, dass Staaten sich bereits entschieden haben für eine siebenjährige Periode“, sagte er vor dem Treffen der Finanzminister in Luxemburg. Er könne alle nur ermuntern, fuhr Lindner fort, strukturelle Reformen einzuleiten und „bisweilen unpopuläre Entscheidungen zu treffen“.
Gut eine Woche später ist klar: Lindner wird aller Voraussicht nach selbst den Sieben-Jahre-Joker ziehen. Auch die Bundesregierung will bei der EU-Kommission mehr Zeit für die Anpassung der Staatsausgaben beantragen, hieß es aus dem Finanzministerium. Normalerweise haben Mitgliedsländer nach den im April beschlossenen Schuldenregeln vier Jahre Zeit, um ihre Ausgaben anzupassen und die Schuldenquote zu senken.
Lindner will jene Öffnungsklausel nutzen, die er eigentlich gar nicht wollte. Nachdem in den vergangenen Jahren Anspruch und Wirklichkeit des EU-Stabilitäts- und Wachstumspaktes immer weiter auseinandergingen, soll mit der Reform der gemeinsamen Schuldenregeln das Vertrauen in die Staatsfinanzen in Europa zurückgewonnen werden.
Während der monatelangen Verhandlungen machte sich Lindner für möglichst strenge Regeln stark. Schon in einer Streckung der Anpassungsphase auf sieben Jahre sah er anfangs eine schädliche Aufweichung. Erst als klar war, dass die Richtung des Schuldenabbaus auch mit der längeren Frist kontinuierlich nach unten gehen muss, stimmte er zu.
Nun wird Lindner wohl selbst von der Ausnahme Gebrauch machen. Denn die Ausgaben des deutschen Staates liegen in diesem Jahr deutlich höher als ursprünglich gedacht – vor allem wegen überplanmäßiger Ausgaben für Bürgergeld und EEG-Umlage. Deswegen ist der Anpassungsbedarf größer, um auf den von der EU-Kommission vorgesehenen Pfad für die nächsten Jahre zu kommen.
Deutschland wolle die Regeln unbedingt einhalten, sagte ein Regierungsvertreter. Für den Erfolg des europäischen Regelwerks sei es wichtig, dass Deutschland „als Stabilitätsanker das europäische Regelwerk konsistent und konsequent umsetzt“. Wie dies genau geschehen soll, werde nun innerhalb der Bundesregierung und mit der EU-Kommission abgestimmt.
Die Alternative zum Sieben-Jahre-Joker wären geringere Steigerungen der Ausgaben des Staates in den vier Jahren von 2025 bis 2028 gewesen – nicht nur der Ausgaben des Bundes, sondern auch der Länder, Kommunen und Sozialkassen. Darauf verweist Thies Büttner, Vorsitzender des unabhängigen Beirats des Stabilitätsrats: „Wenn nun die Ausgangssituation weniger günstig ist, als zunächst unterstellt wurde, muss der Ausgabenpfad entsprechend ambitionierter ausfallen“, sagte er WELT. Dies wird im Finanzministerium angesichts der ohnehin angespannten Haushaltslage und den Milliardenlücken allerdings als unrealistisch angesehen.
Regierung müsste strukturelle Reformen zusagen
Zumal der neue Sachstand Lindner innenpolitisch sogar helfen kann, in den kommenden Wochen leichter seine Positionen gegenüber den Koalitionspartnern SPD und Grünen durchzusetzen. Denn damit die Bundesregierung die Möglichkeit bekommt, den Ausgabenpfad über den längeren Zeitraum von sieben Jahren anzupassen, muss sie im Gegenzug strukturelle Reformen zusagen. Diese sollen die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen verbessern und zu mehr Wirtschaftswachstum führen. Dabei berücksichtigt die Kommission beispielsweise auch, inwiefern ein Land verhindert, dass die Sozialausgaben wegen der Alterung der Gesellschaft langfristig überhandnehmen.
Lindner hatte sich in den vergangenen Wochen immer wieder für weitere Impulse für die Wirtschaft ausgesprochen, die über die vorgestellten Punkte der Wachstumsinitiative der Ampel-Regierung hinausgehen. Bei der FDP ist zudem das geplante Rentenpaket II umstritten, mit dem vor allem die SPD das Rentenniveau dauerhaft sichern will.
Kritiker verweisen auf zusätzliche Rentenausgaben in Höhe von 500 Milliarden Euro bis 2045, für die vor allem die junge Generation über höhere Beiträge und steigende Rentenzuschüsse aufkommen müsste.
So könnte der Sieben-Jahre-Joker am Ende für Lindner noch zum Ampel-Joker werden.
Karsten Seibel ist Wirtschaftsredakteur in Berlin. Er berichtet unter anderem über Haushalts- und Steuerpolitik.
Source: welt.de