Roman | „Ámbar“ von Nicolás Ferraro: Vaters liebste Narbe
Ámbar kann schießen, bevor sie küssen kann: Nicolás Ferraro erzählt die Geschichte eines Aufbegehrens
Wenn der Vater ein Berufsverbrecher ist, zieht es auch die Tochter in die Kriminalität
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Wie unwahrscheinlich, dass diese Geschichte überhaupt beginnen kann. So gefährlich mutet das Leben der jungen Ámbar (Pendragon 2025, 280 S., 22 €) an, dass man sich durchaus fragen kann, wie sie überhaupt 15 Jahre alt wurde. Da kann sie seit drei Jahren Schusswunden verarzten und seit zwei schießen und Auto fahren. Das alles tut sie mit wechselnden Identitäten an wechselnden Orten irgendwo in der argentinischen Provinz. Dieses Leben verdankt sie ihrem Vater. Víctor Mondragón ist ein Berufsverbrecher. Was genau er tut, bleibt im Unklaren, aber er gerät am Beginn dieses Romans in so große Schwierigkeiten, dass er und seine Tochter mal wieder Hals über Kopf aufbrechen müssen.
So beginnt eine Art blutiger, düsterer Roadtrip. Der Leser erlebt ihn über die Sinne der aufmüpfigen Ámbar, die mal abgebrüht, mal wie ein ganz normaler Teenager verunsichert und gelangweilt daherkommt. Autor Nicolás Ferraro schildert dabei ein Argentinien, wie man es hierzulande kaum kennt: Fernab der glitzernden Hochhäuser und der bröckelnden Fin-de-Siècle-Fassaden von Buenos Aires, weit weg auch von der kalten Weite Patagoniens, spielt dieser Thriller im heißen, klebrigen, staubigen Norden, nahe der Grenze zu Paraguay, wie die immer wieder eingestreuten Worte auf Guaraní andeuten.
An der Peripherie blüht die Zwischenwelt. Ferraro beleuchtet die Schattenseiten einer Gesellschaft, in der sich die Reichen in abgeschlossene Wohngebiete zurückziehen, die Armen in einen allzu oft schmutzigen Überlebenskampf verwickelt werden und die Mittelschicht verroht – das Resultat ist Gewalt. Er schildert diese Welt in einer knappen Sprache, die vom lakonisch-schlagfertigen Denken seiner Protagonistin geprägt ist. Jedes Kapitel beginnt in medias res nach einem kurzen Zeitsprung – so muss sich auch der Leser immer wieder neu orientieren.
Mit dem Gefühlsleben einer Erwachsenen erwacht in Ámbar auch zunehmend der Wunsch, sich vom Vater und von seinen Geschäften zu emanzipieren. Sie ist eben, so beginnt der Roman, seine schönste Narbe. Und so endet er auch.