Boualem Sansal: Ein ultimativer Protest
Nachdem der französisch-algerische Autor Boualem Sansal am 16.
November 2024 auf dem Flughafen von Algier verhaftet wurde, hat er sich nicht
mehr öffentlich äußern können. Unklar ist bislang auch, was der konkrete Grund
der Festnahme war, die bei einem Besuch des 80-Jährigen in Algerien von
dortigen Behörden veranlasst wurde. Sansals Pariser Anwalt François Zimeray hat
nach eigenen Angaben noch immer keinen Einblick in die Strafakte Sansals
erhalten. Bisher weiß Zimeray gegenüber ZEIT ONLINE lediglich zu berichten,
dass sein Mandant nach Artikel 87 des algerischen Strafgesetzbuches wegen
Vergehen gegen die Staatssicherheit angeklagt werden soll.
Drei Monate nach der Festnahme Sansals gibt es nun eine
schockierende Nachricht. Der an Krebs erkrankte Autor soll nach Informationen von
ZEIT ONLINE am Wochenende in den Hungerstreik getreten sein. Seine
Krebstherapien sollen deswegen ausgesetzt worden sein. Eine offizielle
Bestätigung dafür von algerischer Seite steht noch aus. Boualem Sansal ist in
den vergangenen Wochen im Strafvollzug des Mustapha-Krankenhauses in Algier
strahlentherapeutisch behandelt worden. Nun soll er ins Gefängnis zurückverlegt
worden sein.
Wie kommt es zu dem Hungerstreik? Wie das französische
Nachrichtenmagazin Marianne zuerst berichtet hat, soll Boualem Sansal am 17.
Februar von zwei Besuchern im Krankenhaus aufgefordert worden sein, seinen
jüdischen Anwalt François Zimeray, der bisher vergeblich auf ein Einreisevisum
nach Algerien wartet, gegen einen nicht-jüdischen auszutauschen. Aus Protest
gegen diesen offenkundig antisemitischen Vorstoß soll Sansal sich nun weigern,
Nahrung zu sich zu nehmen.
Über die konkreten Gründe für die Verhaftung Sansals, der im
Jahr 2011 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde,
kann nach wie vor nur spekuliert werden. Vieles spricht dafür, dass Sansal, der vor Kurzem die französische Staatsbürgerschaft angekommen hat, das Opfer eines
neuerdings wieder aufgeflammten geschichtspolitischen Zerwürfnisses zwischen
Algerien und Frankreich geworden ist.
Es geht dabei um den sogenannten Westsaharakonflikt. In
einem Gespräch mit dem Pariser Magazin Frontières hatte der 1944 in
Nordalgerien geborene Sansal (in manchen Quellen wird sein Geburtsjahr fälschlicherweise mit 1949 angegeben) im vergangenen Jahr die Position vertreten, dass
Marokko seine Ansprüche auf gewisse rohstoffreiche Teile der Westsahara
durchaus zu Recht erhebe. Eine Meinung, die auch von Frankreich in diesem bis
weit ins vorige Jahrhundert zurückreichenden, komplizierten Territorialkonflikt
vertreten wird. Algerien wiederum unterstützt die Organisation Frente Polisario,
die Anspruch auf das Gebiet erhebt und im Jahr 1976 die Demokratische Arabische
Republik Sahara ausgerufen hat, die von rund 50 Staaten anerkannt wird, jedoch
nicht von den Vereinten Nationen.
Ein „Sündenbock“
Auch Sansals Anwalt François Zimeray, ein bekannter
französischer Menschenrechtsanwalt, ehemaliger Abgeordneter des
Europaparlaments und Ex-Botschafter Frankreichs in Dänemark, vermutet in einem
Gespräch mit ZEIT ONLINE, dass sein Mandant der „Sündenbock“ in der aktuellen
Krise zwischen Frankreich und Algerien sei. Die spitzte sich zu, nachdem der
französische Präsident Emmanuel Macron im vergangenen Jahr zunächst in einem Brief und später bei einem Besuch in
der marokkanischen Hauptstadt Rabat versicherte, auch er unterstütze den Anspruch
Marokkos auf die seit dem Ende der Kolonialkriege umkämpften Gebiete in der
Westsahara. Algerien hat seinen Botschafter in Paris daraufhin abgezogen, die
diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Ländern sind auf Eis gelegt. Das
macht Sansals Fall besonders komplex.
Wobei offen bleibt, ob die Romane, darunter etwa 2084. Das
Ende der Welt (2016) und zuletzt Abraham oder Der fünfte Bund (2022), oder die
jüngsten Interviewaussagen des renommierten Autors die Sicherheit Algeriens
gefährden sollen. Zimeray, der Sansal im Auftrag des Pariser Verlags Gallimard
vertritt, erhält nach eigenen Angaben auch keine offiziellen Antworten auf
seine entsprechenden Anfragen.
Nun scheint Sansal sogar das Recht zur Bestellung eines
Anwalts seiner Wahl streitig gemacht zu werden. Man müsse begreifen, sagt François Zimeray, dass Boualem Sansal
nicht nur ein französischer oder algerischer Schriftsteller sei: „Er ist die
Quintessenz eines universalistischen und humanistischen Schriftstellers. Und es
ist völlig inakzeptabel, dass ein Mensch für ein angebliches Meinungsvergehen
ins Gefängnis gesperrt und ihm jede Verteidigung verweigert wird.“
Dagegen, sagt Zimeray, sollten sämtliche Schriftsteller der
Welt revoltieren. Das wird nun zum Beispiel am 7. März in Berlin geschehen. Im
dortigen Deutschen Theater werden unter anderem Aleida Assmann, Daniel
Kehlmann, Wolf Lepenies, Liao Yiwu, Herta Müller und Irina Scherbakowa bei
einer Solidaritätsveranstaltung aus den Werken von Boualem Sansal lesen.