Alles übrig die Normandie zum 80. Jahrestag des D-Day

A

wie Arromanches

Am 6. Juni 1944 leitet die Invasion der Alliierten in der Normandie das Ende der Besetzung Frankreichs durch die Wehrmacht ein. Beteiligt an „Operation Overlord“ sind drei Millionen Soldaten, 11.000 Flugzeuge und 4.000 Schiffe, eine Armada sondergleichen. Als die Truppen Fuß fassen und Land gewinnen, wollen sie versorgt sein. Möglich ist der Nachschub an Waffen, Munition und Lebensmitteln zunächst nur von der See her. So entsteht vor dem Küstenort Arromanches in einer geschützten Bucht binnen Tagen ein „Mulberry-Hafen“. Er besteht aus einem künstlichen Deich, der drei am Meeresboden verankerte Entladekais umschließt. Noch am Abend des „D-Day“ wird damit begonnen, die Anlage von der englischen Küste aus mit einer Geschwindigkeit von 7 km/h Richtung Normandie zu schleppen. Eine ähnliche Installation entsteht am Landeabschnitt Omaha Beach, wird aber am 19. Juni 1944 durch einen Sturm zerstört. Es bleibt nur der Hafen vor Arromanches, dessen Reste bis heute zu sehen sind. Lutz Herden

B

wie Battle of Hastings

Glaubt man den Robin-Hood-Legenden, ist die Eroberung Englands durch die Normannen nach der Schlacht bei Hastings 1066 ein Fall für die Kolonialismus-Forschung. Doch der edle Räuber aus dem Sherwood Forest ist wohl nur eine Erfindung spätmittelalterlicher Balladendichter. Wahr ist hingegen, dass der alteingesessene angelsächsische Adel wenig Sympathie für die neuen Herren aufbringen mochte. Auch die Zentralisierung der politischen Gewalt dürfte ihm nicht behagt haben. Ob aber die letzte geglückte Invasion Britanniens ein zivilisatorischer Rückschritt war, ist in der Forschung umstritten. Die Landessprache zumindest verdankt dem französischen Einfluss viele neue Vokabeln und eine vereinfachte Grammatik. Wilhelm der Eroberer regierte England bis zu seinem Tod 1087. Beigesetzt wurde er in seiner normannischen Heimat. Joachim Feldmann

C

wie Calvados

Am steinigen, windigen Strand von Fécamp in der Normandie sitzen Jules und Louise Maigret auf ihrer plaid de pique-nique, vor sich Gläser und eine Flasche Rotwein. Später, wenn der Kommissar in der Hafenspelunke Au Rendez-vous des Terre-Neuvas (Am Treffen der Neufundlandfahrer) betrunkene Seefahrer befragt, geht er zum Calvados über. Den nimmt er auch gern und oft in den Pariser Bistros, in denen er seine Arbeitspausen verbringt. Der aus vergorenem Apfelmost (Cidre) destillierte Obstbrand ist nach der Gegend um Caen, aus der er stammt, dem Département Calvados, benannt. Das hochprozentige Getränk verleitet die gestrandeten Seeleute zu allerhand Narreteien. Sie zerkauen Glas und zerbeißen Münzen. Dem Kommissar gibt es die Kraft, in einer Szene zwei spillrige Matrosen an je einem Arm in die Höhe zu heben. Maigret kriegt heraus, was auf dem Unglückskutter passiert ist. Alle sind zugleich Opfer und Täter, ein wiederkehrendes Muster in den Romanen Georges Simenons. Michael Suckow

I

wie Impressionismus

In diesem Jahr feiert die Normandie den 150. Geburtstag des Impressionismus. Und auch wenn man meint, all diese Bilder zu kennen, diese Monets, diese Renoirs, Degas, Cézannes, Pissarros oder Bonnards, so verdeutlichen sie bis heute, dass es den Impressionisten vor allem darum ging, ein inneres Bild darzustellen: Sie überwanden den Illusionismus der naturnachahmenden Kunst. Und dieser Prozess fand maßgeblich in der Normandie statt. Hier an der Küste oder im Garten von Claude Monet in Giverny. In Étretat, Deauville oder Trouville, in → Le Havre oder Honfleur. Das Leuchten fasziniert uns noch immer, so wie Étretat, la Manneporte, reflets sur l’eau von Monet, von 1885. Dieser Blick auf die Alabasterküste zeigt uns den Kern des „Impressionismus“, für den Kunstkritiker Jules-Antoine Castagnary 1874 den Namen fand. Marc Peschke

K

wie Küstenszenen

Deauville hat knapp 3.700 Einwohner:innen. Das malerische Seebad wurde im Jahr 2022 allerdings von fast 18 Millionen Menschen besucht, genauer: heimgesucht. In Claude Lelouchs die französische Filmsprache definierendem Klassiker Ein Mann und eine Frau von 1966 ist davon nichts zu sehen. Leer, windig und verwaschen legt sich der Strand den zwei verwitweten Liebenden Anouk Aimée und Jean-Louis Trintignant zu Füßen, auf dass sie ihn – und ihre Herzen – neu beleben. Während Nicole Croisille und Pierre Barouh ihre parasprachliche Filmmusik „Comme nos voix badabada dabadabada …“ croonen, springt einzig noch ein Hund über den Sand. Spielbergs D-Day-Kriegsepos Der Soldat James Ryan dagegen beginnt damit, dass Veteran Ryan den von sattem Grün und weißen Kreuzen bedeckten Soldatenfriedhof an der Küste von Colville-sur-Mer aufsucht, wo über 9.300 Soldaten liegen. Die normannischen Küsten eignen sich anscheinend für beides: größtmögliche Liebe und größtmögliches Leid. Jenni Zylka

L

wie Le Havre

Im September 1944 lag Le Havre in Trümmern. Die deutschen Besatzer hatten die Hafenstadt zur Festung ausgebaut. Allierte Bomber rückten an. Statt für Rekonstruktion entschied man sich für den Neubau einer radikal modernen Modellstadt. Beton war das Material, Plattencharme bestimmt die Optik. Filigrane Details wirken dem Eindruck von Brutalismus entgegen. Die Stadt war für die kollektive Nutzung und das Zusammenkommen angelegt, mit Grünflächen und Plätzen, weitläufigen Fußgängerpassagen. Das erinnert an funktionale sozialistische Architektur, die die Masse Mensch adressierte. Zentrale Gebäude sind gewagter und schmuckvoller, lassen an sozialistischen Klassizismus denken. Auguste Perret führte den Planungsstab an, dem 60 Architekten angehörten. Oscar Niemeyer realisierte ein Kulturhaus, das Stadtzentrum ist UNESCO-Welterbe.Tobias Prüwer

N

wie Nordafrika

Der sowjetisch-französische Film Normandie-Njemen war Anfang der 1960er in der DDR zu sehen und wurde mit viel Lob bedacht (→ Küstenszenen). Er handelt vom Einsatz eines legendären französischen Jagdfliegergeschwaders, das gemeinsam mit sowjetischen Kampfpiloten gegen Nazideutschland kämpfte und diesen Namen trug. Die Piloten hatten sich dem Waffenstillstand unter Philippe Pétain widersetzt und kämpften von Nordafrika aus weiter gegen die Deutschen und ihre Verbündeten. Am Drehbuch hatten prominente Autorinnen und Autoren – unter anderem Elsa Triolet und Konstantin Simonow – mitgewirkt, und auch die Besetzung war auf beiden Seiten hochklassig. Die Geschichte wird mit persönlichen Schicksalen verknüpft. Konflikte, Sprachbarrieren, Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit und deren Überwindung werden erzählt. Die Filmkritiken sprachen von phrasenloser Sachlichkeit und hoher künstlerischer Qualität. Der Streifen lief in einer Zeit, da es verstärkte künstlerische Zusammenarbeit zwischen der UdSSR, aber auch der DDR, und Frankreich gab. Magda Geisler

P

wie Proust

An der „Blumenküste“ (Côte Fleurie), wo sich der Nordrand der Normandie vom französischen Binnenland abzuwinkeln beginnt, liegt das Seebad Cabourg. Marcel Proust ist da oft gewesen und hat den Ort, er nennt ihn Balbec, zum wichtigen Schauplatz seines Romans Auf der Suche nach der verlorenen Zeit gemacht. Das Restaurant des Grandhotels, in dem er abstieg und das auch sein Ich-Erzähler bezieht, heißt heute Le Balbec. So etwas wie einen Hotel-Fahrstuhl hat er vorher nie gesehen, daher folgt eine Metaphern-Explosion: Dorthin, „wo in einer normannischen Kirche das durchbrochene Türmchen wäre“, wird er von einem Liftboy gebracht, der wie ein „gefangenes und gezähmtes Eichhörnchen“, „ein Photograph in seinem verglasten Atelier oder ein Organist in seinem Gehäuse“ zu ihm „herabgeglitten“ ist. Das „Türmchen“ zieht heute Proust-Fans an. Michael Jäger

S

wie Sehnsuchtsort

Am 30. Mai 1431 wurde Jeanne d’Arc in Rouen auf dem Scheiterhaufen verbrannt, und die Leute auf dem Marktplatz gafften, so wie heute bei einem Horrorfilm. Lust, in den Kerker zu steigen, wo die Kämpferin für Frankreich von den Engländern verhört worden war? Lieber würde ich geruhsam über das Kopfsteinpflaster der mittelalterlichen Altstadt flanieren und mir vorstellen, wie viele berühmte Schriftsteller das einst ebenso taten: Pierre Corneille, Gustave Flaubert, Maurice Leblanc (der Erfinder des Meisterdetektivs Arsène Lupin) … Unbedingt wäre auch „Notre-Dame de l’Assomption“ zu besichtigen, die prachtvolle frühgotische Kathedrale aus dem zwölften Jahrhundert, die Claude Monet auf zahlreichen Gemälden verewigt hat (→ Impressionismus). Zu seinem Landgut am rechten Ufer der Seine könnte man sogar einen Abstecher machen. Rouen – es bleibt mein Sehnsuchtsort, leider ist es 1.144 Auto-Kilometer von Berlin entfernt. Auch mit dem Zug würde man mindestens elf Stunden brauchen. Dabei lockt fast in der Nähe ein stiller, klarer See. Irmtraud Gutschke

Z

wie Zugehörig

Ziemlich beste Freunde sind Normannen und Bretonen nicht, wenn es um den berühmten Klosterberg Mont-Saint-Michel geht. Immerhin stand die Felseninsel, an der ab dem achten Jahrhundert bis heute herumgeschustert wurde, ursprünglich auf bretonischem Herrschaftsgebiet in einer großen Wattenmeer-Bucht. Allerdings schlängeln sich da kaum sichtbare Wasserläufe, und der ziemlich abgebrühte Robert I. tauschte im elften Jahrhundert als Grenze die östlich verlaufende Sélune einfach gegen das westlich verlaufende Flüsschen Couesnon aus. Zack, war das Ding auf seiner Seite. Deutsche Soldaten machten während der Besatzung Frankreichs hier Urlaub, zogen aber, netterweise ohne größere Schäden am Bauwerk zu hinterlassen, noch vor Ankunft der Alliierten ab. Seit 1979 gehört der Brocken zum Weltkulturerbe: also uns allen! Romy Straßenburg