Wenn eine Frau ins Feindbild passt

In der neuen Serie „Disclaimer“ spielt Cate Blanchett eine Journalistin, die verleumdet wird. Unser Autor sieht darin eine Allegorie auf die Neue Rechte


Cate Blanchett als Catherine Ravenscroft in „Disclaimer“

Foto: Apple TV+


Was ist eigentlich typisch für die Diskurslogik der Neuen Rechten, die in den digitalen Abgründen der sozialen Medien von TikTok bis Youtube so erfolgreich sind? Sie nehmen eine Täter-Opfer-Umkehr vor und erzeugen Narrative, um Usern das Gefühl zu geben,eigentlich einer kaum mehr zu ertragenden Gewalt ausgesetzt zu sein. Ganz praktisch soll etwa dem Westeuropäer (denn das funktioniert in Frankreich genauso wie in England oder hierzulande) vermittelt werden, dass ein vermeintlicher „Ausländer“ sein Geld verprasst oder ein umweltpolitischer Bürokrat ihm die Bewegungsfreiheit nimmt oder vorschreibt, was er zu essen hat. Dass der Westeuropäer mit seinem Lebensmodell eigentlich gegenüber dem Rest des Planeten erhebliche Gewalt ausübt, soll bitte gar nicht erst thematisiert werden. Lässt sich diese Logik, die auf der Macht von Vorurteilen basiert, auch in eine fiktive Erzählung packen, die wie eine Allegorie für diese Praxis fungieren kann? Das zumindest gibt bei genauerer Betrachtung die neue Apple TV+-Serie Disclaimer von Alfonso Cuarón her.

Mittlerweile musss jeder namhafte Regisseur auch mal eine Serie drehen; selbst Matthias Glasner kommt dieser Tage mit der sehenswerten Serie Informant (Arte) um die Ecke, oder hier nun Alfonso Cuarón mit Disclaimer. Der starbesetzte Siebenteiler des mexikanischen Regisseurs ist an Spannung kaum zu überbieten. Cate Blanchett gibt die erfolgreiche Journalistin Catherine Ravenscroft, die gerade einen Medienpreis bekommen hat und sich mit ihrem Ehemann wohlfühlt, den Sacha Baron Cohen großartig mit viel britischer Upper-Class-Noblesse spielt. Bis ihr jemand einen im Selbstverlag herausgekommenen Roman schickt, bei dessen Lektüre sich ihr die Nackenhaare sträuben.

Denn in „The Perfect Stranger“, so der Titel des anonym zugesandten Buchs, wird eine 20 Jahre zurückliegende Geschichte erzählt, die damals ihr, Catherines Leben auf den Kopf stellte. Nur sie hat nie irgendwem davon erzählt, auch nicht ihrem Ehemann.

Das Buch hat ihr der frustrierte Rentner Stephen Brigstocke (Kevin Kline) zugespielt, der es zuvor als Manuskript in der Schublade seiner verstorbenen Frau fand, zusammen mit anzüglichen Fotos, die Catherine und den in Italien bei einem Badeunfall ertrunkenen Sohn des Rentners, Jonathan, zeigen. Den Roman hat Brigstockes Frau geschrieben. Sie erzählt darin die Geschichte des jungen Jonathan, der in Italien Catherine Ravenscroft als attraktive, erfahrene Frau trifft, die ihn verführt, mit ihm spielt und ihn dann im Meer absaufen lässt, als er am Strand den fünfjährigen Sohn von Catherine vor dem Ertrinken retten will.

Wurde der gutaussehenden Blondine der jugendliche, bis über beide Ohren verliebte Jonathan aus einfachen Verhältnissen zu anstrengend, nachdem sie mit ihm eine Affäre begonnen hatte, als ihr Ehemann geschäftlich nach London musste und sie mit dem kleinen Kind allein in Italien zurückließ? Der Roman wird schließlich von Brigstocke an das ganze Umfeld Catherines verteilt. Alle lesen das Buch und niemand hat Zweifel, dass es der Realität entspricht. Catherines Leben wird zum absoluten Chaos. Ihre Arbeit und ihre Ehe drohen kaputtzugehen.

Der springende Punkt in Disclaimer aber ist: Alle glauben diese Geschichte, weil die im Beruf so erfolgreiche, mit allen Wassern der Political Correctness gewaschene Upper-Class-Lady perfekt ins Feindbild passt. Der Schmerz des kleinbürgerlichen, fleißigen Lehrers Brigstocke dagegen scheint für alle gerechtfertigt. Niemand kommt auf die Idee, die Geschichte auf ihren Wahrheitsgehalt zu hinterfragen.

Bis Catherine Ravenscroft ihre Version auftischt, die mit dem Roman so gar nichts zu tun hat, der im treuen Glauben an die nicht hinterfragbare menschliche Qualität des eigenen Sohnes geschrieben wurde. Den Zuschauern wird der ganze Verlustschmerz der Eltern um die Ohren gehauen, sodass sie gezwungenermaßen tief in die Psyche der Brigstockes eintauchen und deren Geschichte wie alle anderen übernehmen. Dadurch wird dieser Krimi über ein vermeintlich privates Unglück, der mit vielen Rückblenden verschiedene Versionen jenes Sommers auffächert, zu einem gesellschaftspolitischen Drama über die brutale Macht von Vorurteilen, die als Kampagne gefahren in ihrer Dynamik schließlich zerstörerische und mörderische Züge annehmen.