Warum die Zahl welcher Geburten so tief ist
Es gibt ein Wort in Deutschland, das trocknet, falls es in einer Debatte auftaucht, praktisch jede weitere Diskussion aus. Es heißt „Kinderbetreuung“. Wie bekommt Deutschland mehr Arbeitskräfte? Mit mehr Kinderbetreuung. Wie verbessert man die Chancen von Kindern aus armen Familien? Mit besserer Kinderbetreuung. Und warum ist die Geburtenzahl in Deutschland auf Allzeittief? Na, weil die Kinderbetreuung nicht ausreicht.
Nichts davon ist wirklich falsch. Es gibt in Deutschland immer noch nicht genug Kinderbetreuung, zu oft sind Hilfskräfte statt pädagogischer Fachleute damit betraut, und es gibt einzelne Familien, die enorme Probleme haben, überhaupt einen Betreuungsplatz für ihre Kinder zu finden. Doch die Klage über die Kinderbetreuung verstellt zu oft den Blick auf andere, im Einzelfall wichtigere Hebel.
In Sachen Arbeitskraft ist das ziemlich eindeutig. Nicht mal jeder vierte, der Teilzeit arbeitet, nennt als Grund dafür die Betreuung von Kindern oder Angehörigen. Das gilt für Männer wie Frauen. Mehr als die Hälfte aller Frauen in Teilzeit hat nicht einmal Kinder unter 18 Jahren.
Die jüngste Debatte dreht sich um die Geburten. Von 2007 bis 2016 konnte Deutschland von Jahr zu Jahr mehr Neugeborene verzeichnen. Danach stagnierte die Zahl ungefähr. Seit 2022 allerdings geht die Geburtenzahl in Deutschland rasch zurück und hat 2023 ein langjähriges Tief erreicht. Kann das an mangelnder Kinderbetreuung liegen? Unwahrscheinlich.
Eltern verbringen immer mehr Zeit mit ihren Kindern
Die Kinderbetreuung ist nämlich nicht etwa nach 2020 plötzlich zum Erliegen gekommen. Im Gegenteil: Der Ausbau geht mit enormem Tempo weiter. Vor zehn Jahren hatte Deutschland 465.000 pädagogische Betreuungskräfte, im vergangenen Jahr waren es mehr als 700.000. Diese Kräfte betreuen heute 20 Prozent mehr Kinder als vor zehn Jahren. Erzieher ist der Trendberuf dieser Jahre, die Ausbildungseinrichtungen können kaum noch mehr Quereinsteiger aufnehmen.
Trotzdem verbringen Eltern viel mehr Zeit mit ihren Kindern als vor zehn Jahren – vor allem: viel mehr Zeit, in der die Kinder die Hauptrolle spielen und nicht nur mitlaufen. Vor zehn Jahren war das noch eine Stunde täglich, wie das Statistische Bundesamt vor Kurzem berichtet hat. Inzwischen nähert sich die Zeit eher den zwei Stunden. Mütter wie Väter reservieren ihren Kindern größere Zeitblöcke als früher. Selbst wenn Kindergärten bis 17 Uhr geöffnet haben, schöpfen viele Eltern diesen Rahmen nicht aus.
Wer trotzdem die Kinderbetreuung für fehlende Geburten verantwortlich macht – der muss auch eine Idee haben, warum die Geburtenzahlen ausgerechnet dann zurückgehen, wenn Corona in vielen Firmen die Arbeit im Homeoffice durchgesetzt und so die Kinderbetreuung vereinfacht hat.
Lag es an Corona? Der Inflation?
Nein, die Ursache für den Geburtenrückgang muss man anderswo suchen. Zum Beispiel geht die Zahl potentieller Eltern zurück. Nach der Wiedervereinigung gab es in Deutschland schon einmal einen großen Geburtenknick, also vor inzwischen 34 Jahren. Die damals nicht geborenen Kinder sind heute keine Erwachsenen und können darum jetzt ihrerseits keine Kinder bekommen. Das ist eine Entwicklung, die Deutschlands Geburtenzahl allmählich drückt.
Aber was ist im Jahr 2021 ganz plötzlich geschehen? Es fehlt Deutschland an Kindern, die von Frühling 2021 an gezeugt worden wären. Besonders schnell ging die Zahl der Erstgeborenen zurück. Für so einen plötzlichen Trendbruch kann es verschiedene Erklärungen geben: Liegt es daran, dass während der Corona-Pandemie viele Hochzeiten verschoben wurden und manche Paare vor der Familiengründung eben noch die Hochzeit abwarten wollten? Haben sich in der Corona-Pandemie weniger Paare kennengelernt? Hat die Energiekrise des Jahres 2022 die wirtschaftliche Unsicherheit noch verstärkt?
Es gibt viel zu besprechen. Wer jetzt nur auf die Kinderbetreuung zeigt, stellt sich einer sinnvollen Ursachensuche in den Weg.