Weihnachts-Boom am Polarkreis
Am zweiten Feiertag hat der Weihnachtsmann wieder Zeit. Auf einer Rentierfarm bei Rovaniemi im Norden von Finnland kann man dann jedenfalls eine Privataudienz bei ihm buchen. Heiße Getränke sind inbegriffen, für warme Kleidung muss man selbst sorgen. Der Preis ist knackig. Zwei Stunden in der Kälte zusammen mit einem bärtigen Mann im roten Kostüm und einer Herde Rentiere kosten 1500 Euro.
Rovaniemi liegt am Polarkreis, tausend Kilometer nördlich von Helsinki, am Rand der bewohnten Welt. Hier kommt niemand zufällig hin. Im Winter ist die Sonne kaum zu sehen, für Skiferien taugt die Gegend mangels nennenswerter Abfahrtspisten nur bedingt. Trotzdem sind die meisten Hotels zurzeit ausgebucht. Die Taxifahrer machen Extraschichten, Mietwagen sind kaum zu bekommen. Und draußen vor der kleinen Stadt, im Weihnachtsmann-Vergnügungspark namens „Santa Claus Village“, stehen die Besucher sich die Füße platt. Sie wollen Rentiere streicheln, Punsch trinken, Souvenirs kaufen, Geld ausgeben.
Warum bloß in Rovaniemi?
Denn den Finnen ist etwas Phänomenales gelungen. Touristen aus aller Herren Länder halten Rovaniemi für die offizielle Heimat des Weihnachtsmanns. So steht es in Broschüren und Katalogen, so wird es auf Internetseiten und Social-Media-Kanälen verbreitet. Dass der heilige Nikolaus in der heutigen Türkei daheim war, dass sich der Weihnachtsmann als sein popkultureller Wiedergänger den maßgeblichen Darstellungen zufolge nie zu seiner Heimat geäußert hat – geschenkt. Die Touristen schert das nicht, sie strömen in Scharen. Es ist ein Millionengeschäft für Rovaniemi und für Lappland, die umliegende Provinz.
Der Clou daran ist, dass das alles noch nicht einmal eine lange Tradition hat. Vor gerade einmal vierzig Jahren kam der finnische Fremdenverkehrsverband auf die Idee, die Stadt und ganz Lappland fortan als „Santa-Claus-Land“ zu vermarkten. Dreist haben sie sich dafür der in Amerika erfundenen Figur des gemütlichen Geschenkverteilers bemächtigt. Zur Rechtfertigung genügte ihnen, dass es im berühmtesten aller amerikanischen Weihnachtsmanngedichte heißt, er sei mit einem Rentierschlitten unterwegs. Und Rentiere, das immerhin ist erwiesen, gibt es in Nordfinnland wirklich.
Über die bemerkenswerte Großzügigkeit, mit der Reisende heute bei der Wahl ihrer Ziele die Bedeutung von „echt“ und „original“ für sich definieren, haben Kulturwissenschaftler ganze Aufsatzbände geschrieben. In Rovaniemi ist nicht das Polarlicht, das Eisfischen, das Motorschlittenfahren der entscheidende Faktor, sondern der Weihnachtsmann.
Nach der finnischen Folklore hätte ein Berg an der Grenze zu Russland einen gewissen Anspruch darauf, als Heimat des Weihnachtsmanns betrachtet zu werden. Mit viel Phantasie sieht er einem Ohr ähnlich, durch das fromme Wünsche ins Erdinnere dringen können. Aber ein mäßig spektakulärer Berg im Nirgendwo taugt als Touristenziel nicht. Das sah ein Geschäftsmann aus Rovaniemi ein, der sein Glück mit einer Firma für Spielplatzgeräte gemacht hatte und sich folglich mit den Vorlieben von Kindern und dem Verhalten ihrer Eltern auskannte. Er sorgte dafür, dass vor den Toren der Stadt „Santa Claus Village“ eröffnet wurde. Und die Geschichte nahm ihren Lauf.
Rovaniemi hat bloß 65.000 Einwohner, aber den mittlerweile zweitgrößten Flughafen Finnlands. In den vergangenen 25 Jahren hat sich die Zahl der Passagiere dort mehr als verdoppelt, während alle finnischen Flughäfen zusammen im gleichen Zeitraum nur auf ein Plus von 30 Prozent kommen. Für den Rovaniemi-Boom sorgen vor allem die Besucher aus dem Ausland, deren Zahl sich versiebenfacht hat. Aus der örtlichen Flughafenstatistik lässt sich zweifelsfrei ablesen, wann Hochsaison ist. Die Rentierschlitten-Dekoration steht zwar das ganze Jahr zwischen den Gepäckbändern. Aber mehr als ein Drittel aller ausländischen Gäste kommt allein im Dezember. 42 Direktverbindungen gibt es in diesem Winter, doppelt so viele wie 2023. Aus Deutschland geht es von Berlin, Düsseldorf, Hamburg, Stuttgart, München und Frankfurt während der Hauptsaison ohne Zwischenstopp nach Rovaniemi. Die beiden Tage mit den meisten Starts und Landungen dort sind der 23. und der 28. Dezember.
104 Prozent Auslastung im Dezember
Die Sache wird mit makelloser Professionalität betrieben. Erst recht, seit der europäische Markenverband ECTA Rovaniemi vor einigen Jahren das Privileg erteilt hat, mit dem Slogan „Heimat des Weihnachtsmanns“ Werbung zu machen. Im Weihnachtsmann-Vergnügungspark gibt es nicht nur Rentiere zum Streicheln und ein Weihnachtsmann-Postamt. Hier kann man zum Beispiel auch die Frau des Weihnachtsmanns besuchen, von der in der klassischen Weihnachtsmannliteratur nirgends die Rede ist. Geschäftssinn macht eben erfinderisch.
Mit Bedacht wurde der Vergnügungspark zudem direkt auf 66 Grad und 33 Minuten nördlicher Breite errichtet, genau auf dem Polarkreis. Das war klug. Wer sich nicht vom Weihnachtsmann locken lässt, der hat womöglich Sinn für geographische Besonderheiten. Für die Touristen wurde jedenfalls eigens eine urtümlich anmutende Zeremonie erfunden, mit der sie im Vergnügungspark die Überquerung des Polarkreises feiern können. Auch wenn die Ureinwohner, die samischen Rentierhirten, deren Gebräuche dabei eindeutig anklingen, sich mit so etwas nie aufhalten würden.
Der Vergnügungspark wird nicht etwa von einem einzelnen Großkonzern betrieben, sondern als sogenannte Public-private-Partnership, gemeinsam von der öffentlichen Hand und vielen Kleinunternehmen, die mit ihren jeweiligen Angeboten zum Zug kommen. Diese lassen sich schön übersichtlich vorab über die gemeinsame Internetseite buchen, die Finnen sind technisch auf Zack. Es gibt aber kein günstiges All-inclusive-Ticket für alle Attraktionen. Stattdessen gilt das Prinzip „Es läppert sich“. Der Eintritt zur Stube von Frau Weihnachtsmann kostet 5 Euro, ein Foto mit ihr 30 Euro, die Polarkreiszeremonie 60 Euro.
Auch in Deutschland gibt es bekanntermaßen Adressen, an die Kinder vor Weihnachten ihre Wunschzettel zu schreiben pflegen. Himmelpforten, Engelskirchen, Sankt Nikolaus – sie alle haben der finnischen Weihnachtsmannstadt einen passenderen Namen voraus. Es gelingt ihnen aber nicht so recht, ein Geschäft daraus zu machen.
Das finnische Erfolgsrezept
Das liegt nicht nur daran, dass ihnen der Polarkreis, die Rentiere und die Polarlichter fehlen. Sie kommen auch an den übergreifenden Marketingauftritt und den selbstbewusst vorgetragenen Alleinvertretungsanspruch der Finnen nicht ansatzweise heran. Vom Willen zur Kommerzialisierung ganz zu schweigen.
In Deutschland werden die Kinderbriefe von ehrenamtlichen Helfern beantwortet. Die Deutsche Post spendiert das Porto. Das wärmt die Herzen. In Finnland muss man blechen. Das füllt die Kassen. Neun Euro kostet ein Schreiben vom Weihnachtsmann, man kann es in 13 verschiedenen Sprachen online bestellen.
Rund 600.000 Besucher kamen im vergangenen Jahr in den Weihnachtsmann-Vergnügungspark von Rovaniemi. Insgesamt erwirtschaftete die Stadt mehr als 400 Millionen Euro mit dem Tourismus. Auf die Einwohnerzahl umgerechnet, ist es mehr als jede andere finnische Stadt, nur ein paar Wintersportdörfer kommen auf höhere Werte. Für 2024 rechnet Sanna Kärkkäinen, die Geschäftsführerin des Fremdenverkehrsverbands, mit einem Plus von 10 bis 20 Prozent. „Ich habe noch nie so viele Touristen in der Stadt gesehen wie heute“, berichtet sie am Telefon. Vor allem Briten, Franzosen und Spanier seien zurzeit da, aber auch Deutsche und Amerikaner. Die Niederlande, Italien, die Schweiz, China und Indien folgen weiter unten auf der Liste der Herkunftsländer.
Sie könne keine Anzeichen dafür erkennen, dass sich der Santa-Claus-Tourismus-Trend in absehbarer Zukunft abschwächen werde, sagt Kärkkäinen. Im Gegenteil werde es in manchen ausländischen Familien offenkundig zu einer Tradition, Jahr für Jahr rund um Weihnachten nach Rovaniemi zu kommen.
„Unser Weihnachtsmann arbeitet das ganze Jahr durch“
Weder Interesse noch Zahlungskraft wirken erschöpft. Die Kapazität indes kommt an ihre Grenzen. Bei 142 Euro je Nacht lag zuletzt der Durchschnittspreis für ein Zimmer in Rovaniemi im Dezember. Das ist mehr als doppelt so viel wie der finnische Ganzjahresdurchschnitt. Zugleich waren die Unterkünfte in der Stadt offiziell zu 104 Prozent ausgelastet. „Manche Vermieter haben vielleicht eine Schlafgelegenheit in ihrer Sauna improvisiert“, versucht Sanna Kärkkäinen die Fabelquote zu erklären. Für sie ist die große Aufgabe angesichts dieser Zahlen klar: Es geht darum, die anderen elf Monate des Jahres zu bewerben.
Denn vor allem im Sommer stehen im Weihnachtsmannland viele Hotels leer. Damit ließe es sich leben, wenn es Geldgeber nicht davon abhalten würde, in den Bau neuer Unterkünfte zu investieren, die für die Weihnachts- und Wintersaison so dringend nötig wären. Von drei Hotelprojekten ist die Rede, die rund 1000 Betten zusätzlich bringen sollen.
Die Finnen haben viele Ideen, wie sie im Juli und August Touristen locken wollen. Womöglich führt gerade die abwegigste zum Erfolg. „Unser Weihnachtsmann arbeitet das ganze Jahr durch“, sagt Sanna Kärkkäinen fröhlich. Weil es in Lappland nie richtig heiß wird, gibt es auch im Hochsommer keine Änderung der Kleiderordnung; der rote Mantel bleibt für die Laienschauspieler verbindlich, T-Shirts und kurze Hosen sind tabu. Die Preise ändern sich allerdings. Von Mai bis September kosten zwei Stunden mit dem Weihnachtsmann, die Privataudienz auf der Rentierfarm, nur 360 statt 1500 Euro.