VR-Game „Human Within“: Ganze Welten zwischen Daumen und Zeigefinger

So könnte der Traum eines Roboters aussehen: Im unendlichen Raum schweben rechteckige Bilder, wie Postkarten. Man kann sie mit zwei Fingern greifen, heranholen, näher ansehen. Jedes Bild zeigt einen kleinen Film, mit Ton, offenbar einen immer anderen Blick auf eine Szene. Wir begleiten die IT-Expertin Nyla (gespielt von der Berliner Schauspielerin Aleyna Cara), sehen sie aus verschiedenen Kameraperspektiven, aus Überwachungskameras, wie es scheint. Auf den anderen Ansichten ist ein Bürohaus zu sehen, Fassade, Tiefgarage, Lobby, Wachmänner gehen auf und ab. Bald wird man kapieren: Nyla wird dort gefangen gehalten. „Human Within“ ist ein Thriller um Programmierer und Hacker, die zu viel wollen, die das menschliche Gehirn manipulieren, der KI freien Lauf lassen, und um geldgierige, skrupellose Tech-Unternehmer. Klingt irgendwie verdammt aktuell in diesen Tagen.

Es ist aber vor allem auch eines der ersten interessanten Spiele für die virtuelle Realität, es läuft in der Brille Meta Quest 3. Jahrelang waren VR-Brillen viel zu umständlich, schwer, teuer. Nun ist zum ersten Mal alles ganz einfach: Die Quest 3 ist Brille und Mini-Computer gleichzeitig, braucht keine Kabel, die Ohrhörer sind im Kopfband inte­griert, man setzt sie einfach auf, und es geht los. Diese Brille beherrscht gut ein Drittel des Marktes, über eine Million wurden verkauft, das sagen Zahlen von Mitte 2024. Und dann haben auch die deutschen Elektromärkte sie intensiv für das Weihnachtsgeschäft beworben. Das überzeugt derzeit viele, wohl weil es so leicht ist: Nach dem Aufsetzen sieht man erst einmal seinen eigenen Raum durch die Kameras der Brille, nur dass im Wohnzimmer plötzlich Menüs schweben. Und dann taucht man in die Welt der Spiele ab. Räumliche Welten, mit 3-D und Tiefe, in denen man sich umsehen kann, sogar der Ton wandert mit jeder Kopfbewegung, die Illusion ist perfekt.

Der Alexanderplatz als Silicon Valley Europas

Bisher war nur noch gar nicht klar, was in diesen Welten dann erzählt wird und wie. In den VR-Bestenlisten der Spielemagazine stehen die VR-Versionen aktueller Games, „Resident Evil 4“, „Assassin’s Creed Nexus“, „Asgard’s Wrath 2“. Da spielt man das, was man von der Playstation kennt, eben in der Brille. Das mag beeindruckend sein, ist aber nur so aufregend wie ein statisch abgefilmtes Theaterstück: Das neue Medium imitiert das alte und zeigt noch gar nicht, was es kann.

Mit „Human Within“ versucht es das zum ersten Mal konsequent. Es erzählt, wie ein Film – es ist auch zum Teil ein Film, gespielt von deutschen Darstellern, die aber Englisch sprechen. Die Story gibt sich international, wirkt dabei beinahe aufgesetzt. Dass hier eine deutsche Firma beteiligt ist und das Team größtenteils deutsch war, ist recht gut versteckt. Die hiesige Filmförderung unterstützte mit 300.000 Euro, aber man kann das Spiel nur auf Englisch oder Französisch spielen. Signal Space Lab aus Montreal und Actrio Studios aus Leipzig haben das Game gemeinsam produziert, die deutsche Regisseurin Anne Weigel drehte die Filmszenen, der Kanadier Avi Winkler drum herum ein Game.

Es spielt in Berlin. Die Gegend um den Alexanderplatz ist in dieser fiktiven Zukunft eine Art Silicon Valley Europas. In einem geheimen Labor lernen Nyla und ihre Schwester Linh, wie man das Gehirn anzapft und als übermächtigen Computer benutzt. So können sie sich in jede Kamera hacken, jedes Gerät manipulieren. Einmal wird man einen Putzroboter rotieren lassen, um Unruhe zu stiften. Ein anderes Mal eine Polizeisirene aus der Ferne anschalten. Dann immer wieder kann man Zimmer einfrieren, ausführlich begehen, in der Zeit vor- und zurückspulen, in Ruhe auf Spuren untersuchen.

Ken Duken als Fiesling im Maßanzug

Nichts davon ist neu. Dass die Welt elektrifiziert ist und alles gehackt werden kann, war das Konzept der Watch-Dogs-Spiele. Und in dem Roman „Drohnenland“ des Sci-Fi-Bestsellerautors Tom Hillenbrand untersucht die Polizei der Zukunft nur noch virtuelle Abbilder aller Tatorte. „Human With­in“ verbindet diese Ideen nun zu einem Spielerlebnis, in dem einem die Welt zu Füßen liegt, weil die digitalen Möglichkeiten unbegrenzt scheinen. Bis das Fieber steigt und das angeschlossene Gehirn nicht mehr kann.

Manchmal erscheint ein schematischer Stadtplan von Berlin-Mitte, zum Heranziehen, Drehen und zum Beispiel Verbündete Suchen: mithilfe von angezapften Straßen-Kameras oder Handys. Wenn dann die Story vorwärts geht und etwas passiert, ist das meist als gespielte Filmszene zu sehen. Da sitzt man quasi dabei. Der Schauspieler Malik Blumenthal macht einen guten Eindruck als Kleinkrimineller Sean, der in die Story hineingezogen wird und etwas widerwillig für die gute Sache kämpft. Der Schauspieler Ken Duken ist als Blake, der Fiesling im Maßanzug, sogar ganz hervorragend besetzt, spielt eiskalt, narzisstisch, durchtrieben. Auch eine kleine Backstory um seine demente Mutter wirkt berührend. Trotzdem haftet den meisten Szenen etwas Hölzernes an, sie sind unnatürlich langsam gespielt und gesprochen. Hier hat die Regie sich nicht am Tempo von Serien und Filmen orientiert, sondern an Games, in denen Dialoge traditionell etwas schleppend dargestellt werden. So entstehen seltsam lange Gesprächspausen, die von gewichtigen Blicken überbrückt werden – was ein bisschen an schlechtes Schultheater denken lässt.

Wahl zwischen fünf Enden

Während dieser interaktive Film also Schwächen hat – zu viel unterkühlte Designer-Einrichtung, zu viele starre Gesichter, viel zu wenig Tempo –, wirkt er doch packend. Kein Hollywood, nicht einmal gutes Netflix-Niveau, aber ein aufregender Versuch, was eine virtuelle Erfahrung heute sein kann. An etlichen Stellen der Geschichte, die in Rückblenden erzählt wird, sind Entscheidungen zu fällen. Soll die Start-up-Unternehmerin Linh dem aalglatten Investor Blake ihre Telefonnummer geben, eine Affäre beginnen? Ein Blick nach links sagt: Ja! Einer nach rechts sagt: Lieber schnell die Schwester dazurufen. Und als Blake im Gourmet-Restaurant durchdreht, den Teller vom Tisch fegt, erscheint die Frage auf dem Bildschirm, ob der Zeitpunkt gekommen ist, diese Beziehung abzubrechen. Das ist immer den Spielenden überlassen. Die Entscheidungen beeinflussen, wie es weitergeht. Auf fünf verschiedene Arten kann die Geschichte ausgehen.

Am Anfang der Kinogeschichte, in den ersten Guckkästen der Varietés und Jahrmärkte, waren Szenen zu sehen, die heute bestenfalls kurios wirken. Berühmt ist etwa „Fred Ott’s Sneeze“ von 1894, da sieht man einen schnauzbärtigen Herrn, der niest. Sonst nichts. Der Weg bis zu „Citizen Kane“ war noch weit. Das darf man vermutlich nicht vergessen, wenn nun die ersten originär für VR-Brillen gemachten Spiele erscheinen. Dass man in „Human With­in“ immer wieder mal in einer orangefarbenen Kammer kleine Würfel richtig zusammensetzen muss, damit die Story weitergeht, darf man blödsinnig finden. Wer Kinder hat, in deren Zimmer bestimmt auch ein Motorik-Spielzeug steht, braucht so etwas nicht auch noch in seiner digitalen Abendunterhaltung. Und selbst wenn es Spaß macht: Was hat das mit der Geschichte um eine Programmiererin zu tun, die sich von einem Psychopathen manipulieren lässt? Solche Ausfälle zeigen die gewisse Hilflosigkeit, die Games-Entwickler vor dem Berg „Virtuelle Realität“ empfinden. In Kürze dürfte man darauf amüsiert zurückschauen.

Trotzdem ist „Human Within“ ein schönes Wagnis, das es so noch nie gab. Und dieser interessante Game-Film-Hybrid weiß ja, wie man gut erzählt. Einmal muss man sich als Kleingangster namens Sean in ein gut bewachtes Haus einschleichen. Überall sind Kameras, aber die Tiefgarage scheint die Lösung. Dort werden gerade Wasserspender verladen. Also mischt Sean sich unter die Arbeiter und packt an. Auf einmal schreit der Vorarbeiter: „Stop! Du da!“ Alles scheint verloren. Wir schauen ihn entsetzt an. Aber er bellt nur: „Trag die Flasche gefälligst richtig! Über der Schulter!“ Grundsätzlich andere Witze haben große Thriller wie etwa „The Departed“ auch nicht gemacht. Und wenn man mittendrin ist, sich in dieser Welt wähnt, funktionieren sie umso besser.

Source: faz.net