Im Gespräch | Longevity-Coach Kristine Zeller: „Eine App zählt die Sekunden solange bis zu meinem Tod herunter”
Ist das Streben nach einem längeren Leben nur ein Mega-Trend für Leute mit zuviel Zeit und Geld oder eine echte Option für ein besseres Gesundheitsbewusstsein? Im Gespräch erläutern die zwei überzeugten Longevity-Expertinnen Kati Ernst und Kristine Zeller, woher die Abwehrhaltung kommt und warum der Wunsch nach mehr Zukunft auch für die Gegenwart wichtig sein kann.
der Freitag: Frau Ernst, Frau Zeller, haben Sie sich schon mal überlegt, wie es wäre, ewig zu leben?
Kati Ernst: Ich glaube, das ewige Leben wäre eine Strafe, weil sich irgendwann alles wiederholt. Das Schöne an einem Leben ist ja unter anderem, dass man weiß, dass es endlich ist.
Kristine Zeller: Longevity-Theorien besagen, dass wir uns einem ewigen Leben zumindest annähern könnten, da der medizinische Fortschritt irgendwann schneller wird als unser Alterungsprozess. Das ist aber vermutlich eine Glaubensfrage.
Warum ist ein längeres Leben erstrebenswert?
Zeller: In der Longevity Bewegung geht es darum, die Gesundheit an die Lebensspannen anzugleichen und am Lebensende einen plötzlichen gesundheitlichen Verfall zu haben, idealerweise im Schlaf zu sterben. Bis dahin kann ich etwa verschiedene berufliche Laufbahnen einschlagen. Meine Kinder lange beim Aufwachsen begleiten, neue Hobbys ausprobieren und insgesamt das Bild des Alterns von bloßer Gebrechlichkeit entkoppeln und attraktiver machen.
Wie alt möchten Sie selber werden?
Placeholder image-2
Ernst: Der menschliche Organismus kann heutzutage ungefähr 120 Jahre alt werden, mehr Jahre lassen sich nur mit Zellmanipulation rausholen. Die ersten 100 Jahre erreicht man nach heutiger Erkenntnis durch gesunden Lebensstil, ab 100 geht es dann verstärkt um genetische Prädisposition. Ich persönlich würde gern 110 Jahre alt werden. Das ist eine Zahl, die mir Respekt einflößt und mich daran erinnert, was mein Körper noch zu leisten hat. Somit gehe ich pfleglicher mit mir um, als wenn ich ein abstraktes Bild meiner Lebenslänge hätte.
Zeller: Ich habe über einen Living-to-100-Rechner kalkuliert, dass meine Lebenserwartung gemessen an meiner Lebensführung tatsächlich 100 ist. Dann habe ich mir noch eine App auf mein Handy geholt, die die Sekunden bis zu meinem errechneten Tod runterzählt. Dadurch lebe ich viel bewusster und bin angespornt, nicht alles auf später zu verschieben.
Sonst wird man ja eher durch Krankheiten daran erinnert, dass einem nur endlich Zeit bleibt.
Ernst: Das ist kulturell unterschiedlich. Viele asiatische Kulturen etwa setzen sich sehr intensiv mit dem Gedanken des Todes auseinander, nicht nur rechnerisch, sondern auch im Alltag. Das Überschreiten einer Türschwelle symbolisiert zum Beispiel die Nähe des Todes. Es wird gemutmaßt, dass diese selbstverständliche Akzeptanz der eigenen Endlichkeit zu einer höheren Lebenszufriedenheit führt, als wenn die Lebensdauer komplett ignoriert wird. Im Longevity Lifestyle, den wir in unserem Buch beschreiben, geht es aber ganz klar auch um das Hier und Jetzt. Darum, sich durch den bewussten Lebensstil auch heute besser zu fühlen oder weniger krank zu werden, da das Immunsystem stärker ist. Ich kann also von alldem jetzt schon profitieren, auch wenn ich morgen vom Bus überfahren werde.
Wo fängt man an, wenn man einen Longevity Lifestyle verfolgen möchte?
Zeller: Es gibt die vier Säulen der Longevity: Ernährung, Bewegung, Erholung und emotionale Gesundheit, und alle sind gleich wichtig. Deswegen kann auch nicht generell gesagt werden, dass alle Menschen zum Beispiel mit der Ernährung anfangen sollten. Wir bieten im Buch einfache Skalierungstests an, durch die man herausfinden kann, in welchem Bereich es den größten Verbesserungsbedarf gibt.
Ernst: Wir sind überzeugt, jeder Mensch ist selbst in der Lage, den Pfad zu einem besseren Leben zu finden. Wir steuern nur die Tools bei.
Im Buch erwecken Sie den Eindruck, digital sehr affin zu sein. Erzeugen die ganzen Scores und Tracker nicht eher mehr Stress? Außerdem wirkt der Lifestyle ziemlich kostspielig.
Ernst: Jeder kann länger leben, ohne ein elektronisches Gerät dafür in die Hand zu nehmen oder einen Euro auszugeben. Digitale und kostspielige Alternativen kann man sich dazuholen, wenn man das möchte und kann. 85 Prozent der Tipps kann man auch so wahrnehmen. Es geht vor allem darum, Daten über den eigenen Körper zu erheben, sich also mehr mit sich selbst zu beschäftigen. Sich nicht nur ab und zu auf die Waage stellen, sondern Kennzahlen über den körperlichen Zustand und dessen Leistung zu sammeln, sie zu verstehen und auszuwerten. Wie verändert sich mein Ruhepuls, wenn ich regelmäßig Sport treibe? Wie verbessert sich mein Schlaf, wenn ich früher ins Bett gehe? Daten und kausale Zusammenhänge werden ja im Berufsleben auch ständig erhoben, beim eigenen Körper scheinen wir uns aber weniger für Klarheit und Planbarkeit zu interessieren.
Placeholder image-1
Zeller: Wenn wir noch einen Schritt zurückgehen, geht es beim Longevity Lifestyle auch um Priorisierung der eigenen Person. Nicht nur Daten sind ausschlaggebend, sondern die Entscheidung, sich mehr Zeit für die eigene Gesundheit zu nehmen, und zwar bevor einen ein Schicksalsschlag dazu zwingt. Klar ist auch, dass das für viele Menschen schwierig sein kann, die schlicht keine Kapazität haben, weil sie alleinerziehend sind oder sich in einer prekären Situation befinden. Grundsätzlich geht es darum, sich erstmal so wichtig zu nehmen, dass man selber die Sauerstoffmaske aufzieht, bevor man es bei anderen tut. Das ist nicht selbstverständlich.
Was macht eine verstärkte Selbstpriorisierung mit dem persönlichen Umfeld?
Zeller: Ich stecke ganz viele Menschen mit meinem Lebensstil an. Auch jene, die zunächst die Augenbrauen hochziehen. Ich war in meinem ganzen Leben noch nie so fit wie jetzt, das strahlt nach außen aus, gerade auch für die, denen es vielleicht gerade nicht so gut geht.
Das geht nicht bei allen so glatt, oder?
Es ist nicht repräsentativ. In unserem Longevity Podcast erzählen uns Hörerinnen häufig, dass ihre Partner dem veränderten Leben ablehnend gegenüberstehen, oft aus Angst, körperlich nicht mehr mithalten zu können. Sie macht Sport, während er auf der Couch liegen bleibt. Das ist natürlich eine Herausforderung.
Wie kann das gelöst werden?
Ernst: Wir raten dazu, sich eine Community von Gleichgesinnten aufzubauen oder sich einen Longevity-Buddy zu suchen, wie wir beide. Ansonsten am besten fragen, was das Problem ist.
Gibt es bei der Herangehensweise an Longevity generell Unterschiede zwischen Frauen und Männern?
Ernst: Einer der Gründe für unseren Podcast ist, dass wir gern Frauen ansprechen möchten. Das Longevity Thema ist anfangs eher von Männern bespielt worden, insbesondere aus den USA. Der oft langwierige, wissenschaftliche Ton spricht all jene mit wenig Zeit nicht besonders an. Frauen, die in das Thema einsteigen möchten, stehen meist mitten im Leben. Die Kinder sind aus dem Gröbsten raus, erfordern aber trotzdem Zeit, der Wiedereinstieg ins Berufsleben ist herausfordernd, es gilt andere Rollen, als nur die der Mutter einzunehmen. Da bleibt nicht viel Zeit, aber trotzdem der Wunsch, sich wieder mehr um sich selbst zu kümmern. Sie möchten nicht alles blind konsumieren und Zusammenhänge verstehen, brauchen aber keine epischen Ausführungen. Männer haben im Schnitt eine Stunde mehr Zeit am Tag.
Zeller: Unsere Tipps zur Langlebigkeit sind trotzdem für alle Geschlechter gleich relevant, auch wenn es in den konkreten Maßnahmen Unterschiede gibt. Intervalltrainings mit hoher Herzfrequenz zum Beispiel können bei Frauen einen so hohen Spiegel des Stresshormons Cortisol produzieren, dass er mit dem gesamten Hormonzyklus interagiert und dazu führen kann, dass die Periode ausbleibt oder Fettpölsterchen angesetzt werden, um in der vermeintlich stressigen Zeit besser gewappnet zu sein.
Welche Longevity Ziele stehen bei Ihnen dieses Jahr an?
Ernst: Ich würde gern meinen Stress besser managen, und zwar nicht nur damit, dass ich meine Resilienz immer weiter erhöhe, sondern dass ich den wachsenden Stress der letzten Jahre reduziere. Dazu werde ich mich gezielt mental entspannen und meine Herzfrequenzvariabilität tracken, ein guter Indikator für Stressempfinden.
Zeller: Ich möchte mehr Muskelmasse aufbauen. Letztes Jahr hat es mir sehr viel Freude gemacht, Klimmzüge zu lernen. Dieses Jahr möchte ich einen Handstand hinbekommen.
Kristine Zeller studierte Textilbetriebswirtschaft und war in der Modebranche tätig. Zusammen mit Kati Ernst betreibt sie den Podcast Lifestyle of Longevity. Das gleichnamige Buch ist bei DTV erschienen (304 S., 24 €). Zeller lebt mit Mann und Töchtern in Berlin.
Kati Ernst studierte in Münster und promovierte im Bereich Social Entrepreneurship. Sie engagiert sich in einem Startup-Verband und ist Mitglied des Advisory Boards der Business School der Universität Münster. Ernst lebt mit ihrem Mann und drei Kindern in Berlin.