Volker Braun: „Die Geschichte macht keinen Stopp“

Eigentlich wollte er über gar nichts sprechen. Schon am Telefon hatte sich Volker Braun quergestellt. Er könne unmöglich über das neue Buch sprechen. Weil alles, was er sagen wolle, schon da stehe, im Buch. Kein betreutes Lesen, keine nachträglichen Erklärungen. Und so hatten wir verabredet: kein Wort über das Buch. Kommen Sie einfach vorbei, hatte er gesagt, und vermutlich wussten wir beide in diesem Moment, dass es ein Trick war, eine Art Selbstüberlistung. Immerhin hatte der ostdeutsche Dichter Volker Braun nie seinen Mund halten können, nicht in der DDR und erst recht nicht danach. Warum sollte es jetzt anders sein?

Wir sind in seiner Wohnung im Berliner Stadtteil Pankow verabredet. Hohe Decken, schwere Flügeltüren, nicht weit entfernt das legendäre Schloss, in dem Königin Elisabeth Christine, die ungeliebte Gattin des Preußenkönigs Friedrich II., ihre Sommermonate verbrachte. Enge Freunde wie Christa und Gerhard Wolf wohnten hier gleich um die Ecke, aber auch nähere und fernere Kollegen wie Stephan Hermlin, Johannes R. Becher. Während im Prenzlauer Berg der wilde Osten residierte, wohnte hier alles, was in der Literatur der DDR Rang und Namen hatte, mal mehr, mal weniger geduldet von der Nomenklatura.

Wir nehmen in zwei Ledersesseln Platz, ein hoher, schmaler Glastisch zwischen uns, es gibt Kuchen, Mohn, Pflaume, Apfel, natürlich greift der gebürtige Dresdner Volker Braun zur sächsischen Spezialität – der Eierschecke. Hinter ihm türmen sich die Bücher in den Regalen auf, hier die Klassiker, da die Philosophie, das Theater, die Geschichte. Direkt auf Sitzhöhe Schiller, die komplette Horenausgabe, Erscheinungsjahr 1910, darüber Goethe, darunter Kleist. In der obersten Reihe Shakespeare, Kafka, alles Gesprächspartner für ihn, vielleicht sogar die wichtigsten. Braun sortiert gerade Bücher aus: „Vielleicht kann Gerhart Hauptmann raus.“

Wenn man Volker Braun da sitzen sieht in seinem Ohrensessel, inmitten dieser Tradition, muss man ihn schon selbst als Teil dieses klassischen Erbes betrachten. Gedichte, Erzählungen, Theaterstücke. Über die Jahrzehnte ist ein gewaltiges Werk entstanden, für das er schon zur Jahrtausendwende, zehn Jahre nach der Wiedervereinigung, den Georg-Büchner-Preis bekam. Jetzt bald wird er 85 Jahre alt. Und pünktlich zu diesem Geburtstag ist ein schmales Büchlein mit drei lyrischen Essays erschienen, Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben heißt es.

Und darin geht es schon gewaltig los, nämlich mit dem Meer, dieser elementaren Gewalt, dem Ozean der Poesie, in dem heute Jachten, Containerschiffe und Plastikmüll schwimmen: „Warenströme, Billigproduktionen, die die Unmasse von Emotionen und Müll an die Küste spülen.“ Es ist aber nicht nur das Meer, das Braun auf diese Weise neu besingt. Die globalisierte Welt, das heutige „Überall“, hat auch den terrestrischen Sinn aus dem Gleichgewicht gebracht. „Aber die sagenhafte, die Seidenstraße, Reiseroute der Reiterarmeen und Karawanen – wir blicken auf Containerzüge, China Railway Express, DB Cargo Eurasia –, führt wieder durch die Chinesischen Mauern in die Tore Arabiens und Kontore Europas, über Zeitzonen und versunkene Reiche hinweg.“ Und man kann ihm regelrecht zusehen, wie ihn der Überfall auf die Ukraine mitten in der Arbeit am Manuskript trifft: „Das fährt wie ein Brandsatz in meinen Text, und ich kann nicht wie Goethe sagen: Dass Moskau verbrannt ist, tut mir gar nichts.“

Wie alle Bücher Brauns kommt es in dieser Prosa nicht auf die Quantität, das Storytelling an. Es geht um den Versuch, eine exakte und doch sinnlich erfahrbare, kräftige Sprache zu finden, um die Dinge zum Sprechen zu bringen. Er sei kein Vielschreiber, der andauernd etwas abliefert, auch kein ausschweifender Erzähler, so erzählt Braun. Aber was dann? Wie beschreibt man diese Kunst, sich selbst ins Wort zu fallen? „Es ist eigentlich immer ein Sinnkern, den ich zu fassen versuche“, sagt er. Nicht nur bei Gedichten, auch bei Prosa. Es sei eine Grabung nach etwas, das über sich selbst hinausweise. Schon im Vorgespräch kam er unvermittelt, wie es bei ihm meistens der Fall ist, auf die Ode Der Eroberungskrieg von Friedrich Gottlieb Klopstock zu sprechen, in der der Dichter seine Enttäuschung über die Französische Revolution schildert, die so viel Gutes bringen sollte und am Ende doch wieder nur in Napoleons Kriegen endete: „Jetzo lag an der Kette das Ungeheuer, der Greuel / Greuel! itzt war der Mensch über sich selbst erhöht! Aber, weh uns! sie selbst, die das Unthier zähmten, vernichten / Ihr hochheilig Gesetz, schlagen Erobererschlacht“. Es sind Konstellationen, Schneisen wie diese, die Braun durch die Jahrhunderte schlägt, um zu zeigen, dass das, was jetzt passiert, auch der Krieg in der Ukraine, immer in einem größeren Kontext zu verorten ist, in den vielen Kellergeschossen der Geschichte. Aber da wir wirklich verabredet haben, nicht über das Buch zu sprechen, nehmen wir einen Umweg.

Es sind nicht nur die globalen Fliehkräfte, die Volker Braun zu bändigen sucht. Im Grunde hat sein Leben mit diesem Thema begonnen, diesen frühen Gewalten: der Verlust des Vaters im Krieg, das Aufwachsen in der Ruinenstadt Dresden. Lange darf er nicht zum Studium, arbeitet im Gaskombinat Schwarze Pumpe, in der Braunkohle. Vor seiner Bücherwand stehen aufgereiht Stationen dieses Lebens: ein Buch mit Erinnerungen an seine Heimatstadt Dresden, ein Bild von Goethes Bücherzimmer in seinem Haus am Frauenplan in Weimar, ein Foto von Helene Weigel, die ihn Mitte der Sechzigerjahre als Dramaturg ans Berliner Ensemble holte und ihn in die Theaterwelt einführte, und ein Foto von den beiden Überintellektuellen Ernst Bloch und Hans Mayer, Erinnerungen an sein Philosophiestudium in Leipzig. Die Aufnahme zeigt die beiden früheren Leipziger Professoren in Tübingen 1963, kurz nachdem sich nach Bloch auch Mayer entschieden hatte, von einem Besuch im Westen nicht mehr in die DDR zurückzukehren. Auch für Braun stellte sich damals die Frage: In den Westen gehen oder das Schreiben radikalisieren?

Volker Braun blieb im Osten, aber er wurde rasch zum Suhrkamp-Autor und zu einem Star, einer der wenigen gesamtdeutschen Figuren in der Nachkriegsliteratur. Und so hatte er immer auch Kontakt zu seinen Kollegen im Westen: Hans Magnus Enzensberger, seinem ersten Lektor, eine lebenslange Freundschaft, Peter Rühmkorf, auch er ein fester Gesprächspartner, Ingeborg Bachmann. „Die Kunst geht durch die Grenzen“, sagt Braun. Und es klingt so einfach, so zwingend, so schön, als hätte es nie eine andere Lösung gegeben. Als die Wiedervereinigung da ist, Nordsee und Ostsee, Thüringer Wald und Schwäbische Alb, all diese deutschen Landschaften wieder zu ein und demselben Land gehören, ist Volker Braun Vertreter des sogenannten Dritten Wegs, der sich für einen eigenständigen Weg, eine unabhängige Transformation der DDR einsetzt. Während man heute oft den Satz liest, 1989 habe Biografien im Osten zerstört, war es bei ihm umgekehrt: Für ihn habe 1989 bedeutet, eine Biografie zu bekommen. Er sei aufgewachsen mit den großen Geistern, die im Zweiten Weltkrieg im Exil waren – Paul Dessau, Hanns Eisler, die Weigel natürlich. Jetzt hatte er die Geschichte im Rücken und konnte etwas riskieren.

Und jetzt kommt Volker Braun doch auf das Buch zu sprechen. Denn zu den großen Gewalten gehört für ihn heute auch China, „die große Weltwerkhalle“, überhaupt die neue multipolare Weltordnung, in der auch andere Weltregionen ihre Stimmen erheben und mitmischen wollen, Indien, Brasilien, Südafrika. Für ihn ist es heute die „Anderwelt“, das andere zum Status quo. Einst ging sein Land, der Osten, in den Westen. Braun hatte ihm selbst „den Tritt versetzt“, wie er einmal in einem Gedicht schrieb. Heute ist es der Westen, dem der Boden unter den Füßen schwindet: „Der weltordnende Westen hat keine Ordnung mehr, er nährt sich vom Kollaps“, heißt es im Fortwährenden Versuch. Und man kann eine gewisse spöttische Lust bei Braun erkennen, mit der er den neuesten Purzelbäumen der Geschichte zuschaut. Hegels Weltgeist begann seinen Lauf in China, Indien, dem alten Persien. Heute scheint er ebendort zu enden. „Die Geschichte macht keinen Stopp, wenn es hier im Westen stockt, geht es woanders weiter.“

Volker Braun ist nie ein Pessimist gewesen. Aber auch ein utopischer Dichter war er nie mit einem fernen Ziel vor den Augen. Aber er kennt die Arbeit, die auf etwas hindrängt, das Sprengen des Larvenzustandes. „Da vorne ist gar nichts. Wenn etwas ist, dann rumort das im Jetzt“, sagt Volker Braun. Und vielleicht ist es dieses Rumoren, sind es diese unterirdischen Gewalten, die diesen ostdeutschen Querulanten immer noch nicht zufrieden sein lassen.

Volker Braun: Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben. Suhrkamp, 100 S., Berlin 2024; 20,– €, als E-Book 16,99 €