US-Konjunktur unter Joe Biden: Warum Amerika Europa abhängt

Die Vereinigten Staaten ziehen den anderen Industrieländern einschließlich Deutschland wirtschaftlich davon. US-Finanzministerin Janet Yellen pries jetzt auf dem G7-Gipfel im italienischen Stresa „Amerikas starke wirtschaftliche Leistung“ und die „historisch einmalig schnelle und inklusive Konjunkturerholung unter Präsident Biden“.

Doch sei man sich bewusst, dass sich die Volkswirtschaften in einem sehr ungleichen Tempo entwickelten. Das ist ein zarter Hinweis auf eine harte Realität: Die amerikanische Volkswirtschaft hat sich komplett von der Pandemie erholt, während der Euro-Raum, Kanada und Großbritannien dem Wachstumstrend aus der Vor-Corona-Zeit deutlich hinterherhinken.

Das zeigt eine frische Studie der Federal Reserve, die eine Überraschung birgt: Die üblichen verdächtigen Faktoren wie unterschiedlich hohe Staatsausgaben erklären die Unterschiede nur zu einem geringen Teil. Dafür aber sind der Analyse zufolge beliebte arbeitsmarktpolitische Instrumente wie die Kurzarbeit ein Faktor. Um vergleichen zu können, haben die Forscher das reale Wirtschaftswachstum der letzten fünf Jahre vor dem Einsetzen der Pandemie fortgeschrieben in Trendlinien für die jeweiligen Wirtschaftsräume. Die Trendlinien zeigen, wie sich die jeweilige Volkswirtschaft entwickelt hätte, wäre nicht die Pandemie dazwischen gekommen und die Wirtschaft so gewachsen wäre wie vor der Pandemie.

USA haben Pandemie ausgewetzt

Der Vergleich der Trendlinien mit den tatsächlichen Wachstumsentwicklungen offenbart ein klares Ergebnis: Die USA haben schon im letzten Quartal des Vorjahres die Pandemie-Scharte ausgewetzt. Im Euroraum dagegen lag das reale Bruttoinlandsprodukt Ende vorigen Jahres um 5 Prozent unter dem Trend. Das Vereinigte Königreich hinkte sogar um 6 Prozent hinterher und Kanada um 4 Prozent. Noch beunruhigender ist, dass sich der Wachstumstrend in Europa und Kanada abgeschwächt hat. Das deutet darauf hin, dass die Pandemie den Volkswirtschaften einen so schweren Schlag versetzt hat, dass sie sich nie komplett erholen.

Auf der Suche nach Erklärungen für die Differenz durchleuchteten die Forscher mehrere Politikfelder: Unterschiede in staatlichen Ausgaben, in der Geldpolitik, in der Struktur des Arbeitsmarktes und in der generellen Dynamik in den verschiedenen Ländern. Der nahe liegende Gedanke ist, dass die USA viel mehr Staatsmittel als andere Länder ausgegeben haben, um die Bevölkerung vor den Folgen der Pandemie zu bewahren. Das stimmt sogar. Die USA haben zwischen Anfang 2020 und September 2021 Mittel im Gegenwert von rund 25 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes verteilt, während Frankreich 8 Prozent locker machte und Deutschland um die 15 Prozent.

Die amerikanischen Mehrausgaben korrelieren tatsächlich mit den niedrigeren Einbußen beim Wirtschaftswachstum. Doch, so die Fed-Ökonomen, die Korrelation ist schwach. Das heißt, andere Faktoren sind im Spiel und haben größeres Gewicht. Dazu kommt, dass speziell der amerikanische fiskalische Stimulus die Nachfrage nach Handelsgütern erhöht und sich damit durch internationale Lieferketten fortpflanzte. Die Profiteure der Explosion der amerikanischen Staatsausgaben kommen damit nicht nur aus Amerika. Das verfälscht das Bild.

Die Politik der Zentralbanken allerdings macht tatsächlich einen Unterschied und das, obwohl diese seit 2022 ihre Leitzinsen fast synchron bewegten. Der Grund ist, dass die höheren Zinsen bei vielen Bürgern und Firmen in Amerika gar nicht ankamen, während zum Beispiel Kanadier schwer unter den Zinsen litten. In Amerika sind Hypotheken-Darlehen und Firmenkredite oft mit einem Festzins versehen, zudem sind US-Unternehmen generell weniger abhängig von Bankkrediten als ihre Gegenüber in anderen Teilen der Welt. Die Wachstumskluft zwischen den USA und dem Euro-Raum ist aber auch damit nicht erklärt. Denn auch in Europa drückten die Zinsen eher nicht so stark, weil sie bei vielen Kreditprodukten fixiert sind.

Amerikas Arbeiter sind produktiver und arbeiten mehr Stunden

Das führt zum entscheidenden Unterschied: die Dynamik des Arbeitsmarktes. Amerikas Arbeiter sind produktiver und arbeiten mehr Stunden als die Arbeiter in den anderen Wirtschaftsregionen. Die Forscher führen das auf Unterschiede im staatlichen Krisenmanagement zurück. Während der Pandemie haben europäische Regierungen vor allem Unternehmen bezahlt, damit sie ihre Arbeiter behalten, So haben sie am Anfang hohe Arbeitslosigkeit verhindert. Die deutsche Kurzarbeit gehört zu diesem Politikportfolio, ohne dass sie in der Studie namentlich genannt wird.

Gleichzeitig hat das aber die Wirtschaft daran gehindert, auf neue Entwicklungen wie Nachfrageverschiebungen zu reagieren. Wörtlich heißt es: „Während solche Politik dramatische Arbeitslosenquoten im Euro-Raum und Großbritannien zu dämpfen half, schränkten sie die Fähigkeiten der Volkswirtschaften ein, sich anzupassen.“ In Amerika dagegen herrschte zeitweise hohe Arbeitslosigkeit, viele Leute haben aber nach einer Auszeit neue Stellen gefunden. In den Vereinigten Staaten hat ein viel höherer Anteil der Arbeitnehmer den Arbeitsplatz gewechselt als in Europa. Im europäischen Modell sind Arbeitnehmer unterbeschäftigt, was auf die Produktivität drückt. Die Autoren diskutieren allerdings auch die Möglichkeit, dass die Unterbeschäftigung Folge mangelnder Nachfrage ist, die bei besseren Geschäften wieder verschwindet. Das speziell in Deutschland die Arbeitnehmer selten wechseln, bestätigte der jüngste IAB-Linkedin-Branchenwechsel-Radar. Sie wechseln sogar seltener als vor der Krise.

Einen großen Unterschied erkannten die Forscher schließlich in der wirtschaftlichen Dynamik, die sich unter anderem in der Gründung von neuen Unternehmen zeigt. Amerika erlebte im zweiten Halbjahr 2020 einen regelrechten Gründerboom. Die Zahl der Neugründungen bleibt seitdem auf historisch hohen Niveau, während sich im Euroraum die Anzahl der Gründungen auf dem Niveau von vor der Pandemie bewegt. Noch nicht einmal der Einbruch in der Krise wurde ausgeglichen.

Die Fed-Ökonomen räumen ein, dass der Ukrainekrieg und die Abkopplung vom russischen Gas speziell Deutschland zurückgeworfen hat. Zudem habe Bidens Industriepolitik mit Inflation Reduction Act und Chips Act erste Investitionen ausgelöst, während vergleichbare Programme der EU schlicht langsamer Geld bewilligten. Die Analyse ist nicht abschließend, weil sie langfristige Wirkungen von Amerikas großer fiskalische Expansion nicht berücksichtigt. Als möglicher Effekt käme zum Beispiel infrage, dass private Investitionen durch öffentliche Investitionen verdrängt werden, wie es die unabhängigen Rechnungsprüfer des US-Kongresses jüngst diskutierten.