Ungleichheitsbarometer: Ungleichheit schürt Politikverdrossenheit
Viele Menschen schätzen ihre Einflussmöglichkeiten auf die Politik als gering ein. Das ist eine zentrale Erkenntnis aus den aktuellen Daten des Konstanzer Ungleichheitsbarometers, das ZEIT ONLINE exklusiv vorliegt. Zudem fühle sich ein Großteil der Bevölkerung von der Politik nicht gesehen und gehört. „Viele Bürgerinnen und Bürger sehen sich damit quasi auf dem politischen Abstellgleis“, sagt Marius Busemeyer vom Exzellenzcluster The Politics of Inequality an der Universität Konstanz.
Das Ungleichheitsbarometer misst seit vier Jahren in regelmäßigen Umfragen, wie Bürgerinnen und Bürger das Maß an Ungleichheit in Deutschland wahrnehmen. An der jüngsten Umfrage, die online stattfand, nahmen mehr als 6.100 Teilnehmer teil. Die Daten sind nach Angaben der Autoren „quasi repräsentativ“, weil sie entsprechend Alter, Geschlecht und Einkommen gewichtet wurden. Die Forscher sind überzeugt, dass es „klare statistische Zusammenhänge“ zwischen ökonomischer und politischer Ungleichheit gebe, diese beeinflussten sich wechselseitig.
Politischer Sprengstoff
Eine hohe wahrgenommene ökonomische Ungleichheit geht demnach mit dem Eindruck einher, kaum politischen Einfluss nehmen zu können. In anderen Worten: Wer ein hohes Maß an Ungleichheit wahrnimmt, ist zugleich weniger zuversichtlich, daran etwas durch eigenes politisches Handeln verändern zu können. Laut Autoren liege darin auch politischer Sprengstoff, weil dies zur „Erosion des Vertrauens in die Demokratie und ihre politischen Institutionen führe“.
Interessant ist zudem, dass nur 19 Prozent der Befragten verneinen, wichtige politische Fragen gut zu verstehen. Aber die Skepsis gegenüber dem politischen System, dass es auf Wünsche und Bedürfnisse der Wähler reagiere, ist deutlich höher: 85 Prozent geben an, dass Politiker sich nicht darum kümmern würden, was „einfache Leute“ denken. 82 Prozent sind sogar der Meinung, Politikerinnen und Politiker bemühten sich nicht um einen engen Kontakt zur Bevölkerung.
Wer die politische Mitte wählt (SPD, CDU/CSU, Grüne, FDP) hat demnach eher den Eindruck, gehört zu werden, als jemand, der am Rand des politischen Spektrums wählt (AfD, BSW, Linke). Dass Politikerinnen und Politiker sich nicht darum kümmern, was „einfache Leute“ denken, glauben zum Beispiel Anhänger der Grünen nur zu 74 Prozent. Im Gegensatz dazu sind es bei AfD-Anhängern 95 Prozent. „Hier zeigt sich ein sehr klarer Zusammenhang: Diejenigen, die überzeugt sind, wenig Einfluss auf die Politik zu haben, unterstützen signifikant stärker populistische und/oder extreme Parteien“, sagt Busemeyer.
Menschen aus unteren Einkommensschichten und mit geringerer Bildung nehmen zudem laut der Studie systematisch weniger persönliche Einflussmöglichkeiten auf die Politik wahr. Sie sind auch weniger zuversichtlich, sich selbst aktiv in politische Debatten einbringen zu können. So beträgt der Unterschied zwischen Menschen mit hoher und niedriger Bildung 13 Prozentpunkte. Wer eine geringere politische Wirksamkeit angab, gab auch häufiger an, nicht wählen zu wollen.
Bürger empfinden große Einkommensunterschiede
Ein beachtlicher Teil der Befragten nimmt zudem eine starke ökonomische Ungleichheit in Deutschland wahr und sieht darin ein Problem. So sind 81 Prozent der Meinung, die Einkommensunterschiede in Deutschland seien zu groß. Dabei werden sowohl die Einkommen der Armen (67 Prozent) als auch die Einkommen der Mittelschicht (70 Prozent) als zu niedrig gesehen.
Die Autoren empfehlen Politikerinnen und Politikern und vor allem den Parteien, politisch interessierte Menschen nicht nur anzusprechen, sondern auch effektiv in Mitbestimmungs- und Entscheidungsprozesse einzubinden. Zudem sollten bewusst Freiräume für politische Debatten im Alltag gesichert und erweitert werden, etwa in Betrieben, Schulen und Universitäten. „Das demokratische Streiten um gute Lösungen muss wieder stärker in den realweltlichen Alltagspraktiken verankert werden“, sagt Busemeyer.