Stadtführung: In Singapur zeigen Einheimische, wie sie wohnen – WELT

Singapur gehört zu den teuersten Städten der Welt. Und schafft es trotzdem, günstigen Wohnraum für Millionen zu schaffen. Touristen können die Erfolgsgeschichte namens „Public Housing“ auf speziellen Touren erleben und Menschen in ihren Wohnungen besuchen.

Es ist schwül und heiß, 30 Grad bereits um 10 Uhr morgens, Luftfeuchtigkeit 90 Prozent. Trotzdem sind wir zu Fuß im Stadtteil Tanjong Pagar unterwegs: ein Quartier im Süden Singapurs mit vielen Restaurants und buntem Nachtleben. Um uns herum: 30- bis 40-stöckige Wohnhäuser.

Hier lebt und arbeitet Pei Shyuan Yeo. Die Architektin und Stadtführerin bietet Touren durch Singapur an und zeigt Touristen dabei ihr eigenes Wohnviertel. Sie habe einige Jahre im Ausland gelebt, sagt Yeo, „aber nirgendwo gibt es diese Art Wohnungsbau. Das ist faszinierend, und ich möchte, dass Menschen unsere Art zu wohnen kennenlernen.“

Was auf der zweieinhalbstündigen Tour durch Tanjong Pagar unübersehbar ist: Hier dominieren Hochhäuser, die alle rechtwinklig angeordnet und in modularer Bauweise errichtet wurden aus standardisierten Bauelementen. „Die Leute nennen das Keksausstecher-Architektur“, sagt Yeo. Obwohl Häuser und Wohnungen oft einförmig und nach dem gleichen Muster gestaltet seien, erfreuten sie sich bei den Singapurern großer Beliebtheit.

Nicht nur Yeo bietet solche Nachbarschaftstouren an (siehe unten), doch das Besondere bei ihr ist: Beim Gang durch das Viertel schaut man sich eine Wohnung auch von innen an und kann mit dem Besitzer persönlich sprechen.

So vermeiden Bürger in Singapur hohe Mieten

Heute treffen wir Keith Ng, er hat seine eigene Wohnung für 99 Jahre vom Staat gepachtet. Nichts Ungewöhnliches in Singapur. „Public Housing“ nennt sich das System. Über 80 Prozent aller Einwohner haben eine solche Eigentumswohnung mit staatlicher Hilfe erworben, um dem Problem hoher Mieten zu entgehen.

Die Eigentümer können ihre Wohnung zu jedem Zeitpunkt verkaufen und den Gewinn behalten. Allerdings dürfen Käufer keinen anderweitigen Wohnungsbesitz haben und ein bestimmtes Einkommen nicht überschreiten. Dafür werden – im Gegensatz zu privaten Immobilien – diese Wohnungen alle 30 Jahre vom Staat grundlegend saniert.

„Meine Haustür steht eigentlich immer offen“, erklärt Keith in seiner Dreizimmerwohnung. Die Einrichtung ist minimalistisch mit offener Wohnküche und modernen Geräten, die Wände sind farbig und frisch gestrichen, große Fenster sorgen für viel Licht.

Vor der Haustür stehen Pflanzen, um die sich seine Nachbarn kümmern, wenn er unterwegs ist. „Meine Nachbarn sind mir wichtig: zwei ältere Leute. Wir kaufen für uns gegenseitig ein. Wir nennen das Kampong, ein malaiisches Wort, das traditionell ein Dorf oder eine ländliche Siedlung beschreibt. Uns ist so eine enge soziale Bindung wichtig.“

Keith hat Chrysanthemen-Tee und Kueh Dadar vorbereitet, Kokosnusspfannkuchen. Wir sitzen in der Küche, Mutter und Freundin kümmern sich um das Mittagessen. Keith hatte vor einigen Jahren in Belgien und Deutschland gelebt, heute betreibt er eine eigene Internetfirma. Das Leben in Europa sei langsamer, findet Keith, in Singapur gehe es viel atemloser und reglementierter zu.

Seine Wohnung liegt im 19. Stockwerk, trotzdem fühle er sich hier wohl, sagt Keith. Er sei leidenschaftlicher Fahrradfahrer, sein Bike stehe immer auf dem Hausflur. Die Nachbarn würden das tolerieren, siehe oben: Kampong!

Wie Bürger Wohnungseigentümer wurden

Singapurs Wohnungs- und Immobilienmarkt ist einer der teuersten der Welt. Trotzdem müssen die Singapurer keine Großverdiener sein, um eine Immobilie vom Staat zu erwerben. Dank staatlicher Zuschüsse setzen Erstkäufer weniger als ein Viertel ihres Monatseinkommens für den Kauf ein. In Deutschland ist das manchmal schon die Hälfte. Das Schlüsselinstrument dafür ist das „Housing and Development Board“ (HDB): eine staatliche Behörde, die für Bau und Verwaltung öffentlicher Wohnungen verantwortlich ist. Etwa 1,2 Millionen HDB-Wohnungen gibt es derzeit in Singapur.

In den 1960er-Jahren besaß weniger als einer von zehn Einwohnern ein öffentlich gefördertes Eigentumsapartment. Die meisten lebten in überfüllten Häusern oder in ländlichen Gebieten mit schlechten sanitären Einrichtungen ohne fließendes Wasser. Als die HDP-Behörde gegründet wurde, um die schlechten Wohnverhältnisse zu bekämpfen, suchte man nach Alternativen zum konventionellen Mietwohnungsmodell und entschied: Singapur sollte zu einer Gesellschaft von Wohnungseigentümern werden. Jedem Bürger sollte ein Teil des Landes gehören. Heute hat der Stadtstaat eine der höchsten Wohneigentumsquoten der Welt.

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Das System des „Public Housing“ funktioniere, hier lebten Arm und Reich nebeneinander, sagt Keith Ng. „Die Regierung will nicht, dass Leute Häuser und Wohnungen kaufen, um mit ihnen zu spekulieren.“ Die Idee des öffentlich geförderten Wohneigentums sei, „dass du in der Wohnung lebst und nicht, dass du Geld damit verdienst.“ Das ist auch einer der Gründe, warum Airbnb in Singapur verboten ist. Öffentlich geförderte Eigentumswohnungen dürfen generell nicht vermietet werden.

Beim gemeinsamen Gang durch den Hochhauskomplex mit Keith und Yeo fällt auf: Überall gibt es gepflegte Grünflächen, alles wirkt renoviert, Unrat: Fehlanzeige! Die Fassaden sind frisch gestrichen, Graffiti sucht man vergeblich. Die sind in ganz Singapur auch streng verboten, ebenso das Wegwerfen von Kaugummis oder Zigaretten.

„Public Housing“ fördert Beziehungen unter Nachbarn

In den langen Häuserfluren hängen Nachbarn ihre Wäsche auf, man sieht ältere und jüngere Leute miteinander plaudern; statt Wohnungen befinden sich im Erdgeschoss der „Keksausstecher“ öffentliche Begegnungsstätten oder wie hier: Bäckerei, Friseur, Restaurant und Supermarkt. Man kann Dinge des täglichen Lebens kaufen, ohne mit dem Auto fahren zu müssen. Die nächste Bus- oder U-Bahnstation ist drei Minuten entfernt, so hat es die Regierung vorgeschrieben. Sozialer Wohnungsbau geht mit örtlicher Infrastruktur Hand in Hand.

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In Gehweite bietet diese Anlage Schulen, Kindergärten und medizinische Versorgung. Das Phänomen der „vergessenen Toten“ wie in Europa, wo Verstorbene manchmal tage- oder wochenlang unentdeckt in ihren Wohnungen liegen, würde man in Singapur nicht kennen, sagt Keith.

Das System des „Public Housing“ ist gleichwohl alles andere als perfekt: Die Regierung verbindet den Zugang zu den günstigen Wohnungen mit antiquierten gesellschaftspolitischen Vorstellungen – und stößt damit auch auf Kritik. Denn der Staat greift damit in das Privatleben der Bürger ein. Junge Paare müssen verheiratet sein, um ein staatlich gefördertes Zuhause erwerben zu können. Singles unter 35 haben praktisch keine Chance, ebenso Alleinerziehende unter dieser Altersgrenze.

2021 wurden einige Regelungen noch verschärft. Bei Wohnungen in besonders zentralen Langen sind unverheiratete Personen künftig unabhängig vom Alter ausgeschlossen – Ausnahmen sind Singles, die mit Eltern und Geschwistern zusammenleben. Da habe er Glück gehabt, als er vor Jahren seine Wohnung kaufen konnte, sagt Keith Ng.

Nachbarschaftstouren: Singapore Public Housing Tour von Pei Shyuan Yeo, everydaytourcompany.com, Preise: ein bis drei Personen umgerechnet rund 210 Euro, vier bis sechs Personen: 280 Euro, Dauer: zwei Stunden. Home Insider Peek to a HDB Home: Tribe Tours, tribe-tours.com/product/hdb-home/, Preise: Erwachsene rund 106 Euro, Dauer: drei Stunden. Public Housing Tour – Into the HDB Heartlands in Singapore, feverup.com/m/117166, Preise: Erwachsene rund 45 Euro, Kinder 25 Euro, Dauer: drei Stunden.

Weitere Informationen: Visit Singapore, visitsingapore.com/de_de/

Source: welt.de