S-Bahn: Wo Berlin seinem historischen Jenseits im Diesseits begegnet

Oh, schönste, abschiedstrunkene Abende des Jahres im Spätsommer, die Tage wogen hin, die Tage wogen her. Und der Fuß des Wanderers im Charlottenburger Spree- und Schleusenland gehört dem Pfadfinder auf der Suche nach der verlorenen Zeit und sich selbst. Er stöbert im Unterholz, stolpert über mürbe, zerfallende Eisenbahnschwellen, stößt auf den dürren Schotter eines Gleisbetts, das keines mehr ist, findet Strelitzien statt Stromschienen. Die Lebensuhr Berlins, die sonst so taktvoll und selbstvergessen schlägt – hier rührt sie keinen Zeiger mehr.

So viele S-Bahn-Trassen der Stadt kamen in den vergangenen 35 Jahren wieder unter Strom, zwei aber dämmern vergessen und verrottet vor sich hin: im Süden die Kurzstrecke von Wannsee über Dreilinden nach Stahnsdorf, einst „Friedhofsbahn“ genannt, da im letzten Waggon eines Zuges Särge und Trauergesellschaften hinaus zum Friedhof Stahnsdorf fahren konnten, auf dem seit 1929 Berlins Milieumaler Heinrich Zille liegt. Gleich nach dem 13. August 1961 war es um diese Verbindung geschehen, ihre Endstationen lagen vor oder hinter der Mauer, je nachdem, wo man stand und vergeblich wartete auf das Bremsgeräusch einer S-Bahn, das damals noch so klang, als würde ein Zug erschöpft ausatmen nach überstandener Fahrt.

Im Westen der Stadt wiederum fristet bis heute der elegant geschwungene Viadukt durch Siemensstadt, das einstige „Elektropolis“ Berlins, weniger als ein Schattendasein. Zwar ist die Strecke noch weitgehend vorhanden, aber seit 45 Jahren nur mehr totes Gleis, wenn überhaupt. Wer den Spuren der „Siemensbahn“ folgt, muss darauf gefasst sein, dem historischen Jenseits im Diesseits zu begegnen. Was in diesem Fall heißt, auf unverwüstliches Inventar der Industrie- und Sozialgeschichte Berlins zu stoßen, deren Teil die Stadtbahn stets war. Sie entstammt einer Epoche, die mit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts begann und mit dem letzten des 20. zu Ende ging.

Die stillgelegte S-Bahn durch Siemensstadt erzählt davon – mit den alten Bahnhöfen und Schildern aus rostender Emaille, dem blind gewordenen Glas an Schwingtüren und Fahrkartenschaltern, den Dächern der Stationen, getragen von klassizistischen gusseisernen Säulen, mit Brücken als ingenieurtechnischen Meisterwerken und architektonischen Offenbarungseiden, die Straßen überqueren und Zeiten überdauern. Mit der Schultheiß-Werbung am verwitterten Kiosk auf dem Bahnhof Siemensstadt, an dem sich Abende zubringen ließen, bis mit der Nacht der letzte Zug kam. Je mehr sich die S-Bahn einen Fundus an Material schuf und bewahrte, desto mehr trug sie ihre Geschichte wie ein Gesicht durch die Jahrzehnte, desto erkennbarer und unverkennbarer wurde es.

Heute ist von dieser Signatur so wenig übrig, dass es nicht weiter schwerfällt, darüber hinweg- oder hindurchzusehen. Bahnhöfe finden sich dumpfer Anonymität überlassen und verkommen zu Einkaufszentren, als seien sie ihre Bestimmung nicht mehr wert, dafür umso mehr geeignet, Systemrelevanz herauszustreichen. Dabei ist allein die vor hundert Jahren begonnene Elektrifizierung der Strecken geeignet, der Industriestadt Berlin ein Denkmal zu setzen, sich ihrer zu besinnen als Transit durch Raum und Zeit, dem die S-Bahn zu Schwung und Stolz verhalf. Als am 8. August 1924 der erste Zug vom Stettiner Bahnhof (heute Nordbahnhof) zum nördlichen Vorort Bernau seinen Antrieb einer Stromschiene verdankte, wäre das ohne experimentelles Vorspiel um 1900 und danach undenkbar gewesen.

Man hielt es mit einem Betriebssystem, wie es für die ab 1902 ebenso mit Gleichstrom und Stromschiene verkehrende Berliner U-Bahn üblich war und erstmals zwischen Bahnhof Knie (Ernst-Reuter-Platz) und Stralauer Tor (Warschauer Brücke) in Gebrauch kam. Die allzeit ehrgeizigen Ambitionen des Wissenschafts- und Militärstandortes Berlin zahlten sich gleichsam aus. Als die S-Bahn begann, ab 1924 ihre Dampflokomotiven auszumustern, konnte sie auf Versuche mit Testtriebwagen von Siemens & Halse zurückkommen, die 1903 auf der „Militärbahn“ Marienfelde-Zossen Spitzengeschwindigkeiten von 210 Stundenkilometern erreichten. Die osmotische Beziehung zwischen dem modernen Verkehrsmittel und einem innovativen Unternehmen der Elektrobranche hatte lange Bestand. 1879 präsentierte Firmengründer Werner von Siemens (1816 – 1892) auf der Berliner Industrieausstellung eine erste Elektrolok. Die Filialen des zum Weltkonzern aufsteigenden Unternehmens beschäftigten in der Reichshauptstadt gegen 1900 gut 15.000 Mitarbeiter.

Der Stille ins Mark fahren

Siemens brauchte Platz und fand ihn im Nordwesten, in den lichten Weiten Randberlins und der Jungfernheide. Der Erste Weltkrieg bekam der Firma gut, Siemens wurde Rüstungslieferant, überstand später die Inflationszeit fast unbeschadet und hielt 1925 mehr als 27.000 Frauen und Männer in seinen Diensten, als die sensationelle Entscheidung fiel: Wir bauen eine S-Bahn von Jungfernheide über das Wernerwerk nach Gartenfeld. Für Berlins „Elektropolis“ nur das Beste und Schnellste. Ein Konzern verschafft sich seine Bahn – eine Novität für das Berliner S-Bahn-Netz, und extravagant war sie obendrein.

Bis dahin hatten Siemenswerker zeitraubende Arbeitswege auf sich zu nehmen. Ob aus Neukölln, Charlottenburg, Schöneberg oder Spandau unterwegs, hatten sie den Fluch ihres irdischen Tagwerks durch die Spreewiesen und den Nonnendamm zu tragen. Der Anmarsch bestätigte, was in Berlin als Erfahrung über das Malochen bei Siemens kursierte und sich bei Goethe bediente. Konnte man in dessen Wilhelm Meister lesen: „Wer nie sein Brot mit Tränen aß, wer nie die kummervollen Nächte auf seinem Bett weinend saß, der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte“, wurde in Berlin daraus: „Wer nie bei Siemens-Schuckert war, bei AEG und Borsig, der kennt des Lebens Jammer nicht, der hat ihn erst noch vor sich.“ – Für die eigene S-Bahn investierte Siemens 15 Millionen Reichsmark, stellte mit der Siemens Bau AG den Bauherren und mit Hans Hertlein den Architekten der Bahnhöfe. Zum Schichtwechsel bei Siemens galt ein Zehn-Minuten-Takt, von Siemensstadt ging es in drei Minuten zur Station Wernerwerk, von dort noch mal drei zur Jungfernheide und zum Umstieg in die Ringbahn. Am 18. Dezember 1929 verkehrte der erste Zug – am 18. September 1980 der letzte. Nach einem Streik des Westberliner S-Bahn-Personals ruhte der Betrieb und tat dies für immer.

Die Alliierten hatten nach 1945 die Betriebsrechte für das gesamte S-Bahn-Netz der Reichsbahn in Ostberlin übertragen. Nach dem Mauerbau verfiel Westberlin in Boykottlaune und dem ungeschriebenen Gesetz – mit der S-Bahn fährt man nicht. Eine schon zur Genüge amputierte Stadt verstümmelte sich zusätzlich und ihre Geschichte gleich mit. Es gab Züge ohne einen Reisenden, die S-Bahn beförderte nur noch sich selbst, gegen die Siemens- wurde die U-Bahn als Totmacher gebaut, bis auf der Strecke nach Gartenfeld Ödnis herrschte und in postindustrielle Wildnis überging.

Nichts rührt sich in der Gartenkolonie Schleusenland im Charlottenburger Spreebogen, abgesehen von einigen Walking-Damen, die ihr wissendes Lächeln durch den Spätsommer tragen wie andere Stirnbänder oder Gesinnungen. Die Zeiten wogen hin und wogen her. Die Tage erst recht. Farbe blättert wie Schorf vom Laubenholz, Grashalme kitzeln Mäuseohren, Tauben treiben Spatzen aus dem Lindenbaum. Auf mancher Parzelle steht ein Heinrich Zille aus Gips und hält seinen Skizzenblock über Gartenzwerge und Froschkönige. Was könnten sie miteinander erleben, wäre inmitten der Seerosen- und Hortensien-Herrlichkeit das auf- und abschwellende Raunen der Siemensbahn pünktlich genug, der Stille aller zehn Minuten ins Mark zu fahren? Ein kleiner Schilderwald lässt hoffen. Er weist die Richtung über die Wilhelm- und Leipziger Straße zum Potsdamer Platz, Wege benennend, die an der Petersilie vorbei zum Gartenlokal „Tunneleck“ führen. Es gibt Brauselimonade mit Schnaps, würde Kurt Tucholsky vermerken. Nach Bouletten riecht es auch. Wie einst am Ausschank Bahnhof Siemensstadt, der Sekt servierte, bis mit der Nacht der letzte Zug kam. Oder auch nicht.