Proteste in Serbien: „Wir wurden wie Befreier empfangen“
Seit Monaten protestieren in Serbien Zehntausende gegen die Regierung. Was mit Demonstrationen Studierender begann, hat sich zur größten Protestbewegung seit dem Sturz des ehemaligen jugoslawischen Staatschefs Slobodan Milošević im Jahr 2000 entwickelt. Laut Umfragen unterstützen mehr als 60 Prozent der Serbinnen und Serben die Proteste. Sie wurden ausgelöst durch den Einsturz eines Vordachs im frisch renovierten Bahnhof in der Stadt Novi Sad am 1. November 2024. Dabei sind 15 Menschen gestorben. Das Unglück gilt vielen in Serbien als Symptom für allgegenwärtige Korruption und staatliches Versagen. Wiederholt wurden die Protestierenden von Unterstützern der Regierungspartei und regierungsnahen Schlägertrupps angegriffen. Doch vergangene Woche hat die Protestbewegung einen ersten Erfolg errungen: Premierminister Miloš Vučević ist zurückgetreten. Trotzdem gehen die Kundgebungen weiter. Fünf Menschen erzählen, warum sie auf die Straße gehen.
Milica Maksimović, 23, studiert Politikwissenschaft in Belgrad
Seit Anfang Dezember schlafe ich kaum noch in meinem eigenen Bett, sondern auf einer Isomatte in der Fakultät für Politikwissenschaften. Unsere Universität streikt, wie die meisten anderen in unserem Land. Mehr als 60 Fakultäten landesweit sind seit Monaten besetzt, der Betrieb steht still.
Doch die leeren Hörsäle sind mehr als Schlafplätze – wir organisieren dort Filmabende, Diskussionen und Kunstausstellungen. Außerdem gehen wir täglich gemeinsam zu Fuß zum nahe liegenden Bulevar oslobodjenja, dem Boulevard der Befreiung, in der Nähe der Fakultät, um dort um 11.52 Uhr, dem Zeitpunkt des Unglücks in Novi Sad, 15 Minuten lang in Gedenken an die Opfer zu schweigen.
Eigentlich wollte ich dieses Jahr meinen Bachelor abschließen – doch daraus wird wohl nichts. Vor fünf Jahren bin ich aus Kosjerić, einer Kleinstadt im Westen Serbiens, nach Belgrad gezogen. Ich bin die Erste in meiner Familie, die studiert. Meine Eltern und meine Großeltern haben in der Landwirtschaft gearbeitet.
Präsident Aleksandar Vučić behauptet gern, er hätte viel für Serbien getan. Aber das ist nicht wahr. Mit unserem Protest wollen wir erreichen, dass die Behörden und Institutionen endlich anfangen, sich an die Gesetze zu halten. Wir fordern, dass die gesamte Dokumentation zur Sanierung des Bahnhofs öffentlich gemacht wird und alle Verantwortlichen für den Einsturz des Dachs zur Rechenschaft gezogen werden. Auch all jene, die hinter den Angriffen auf Studierende während der Proteste stehen, sollen strafrechtlich verfolgt werden. Alle während der Proteste verhafteten Studierenden und Bürger sollen freigelassen und die Verfahren gegen sie eingestellt werden.
Premierminister Miloš Vučević ist kürzlich zurückgetreten – drei Monate nach der Tragödie in Novi Sad. Das hätte am Tag nach dem Tod von 15 Menschen passieren sollen.
Unser Protest geht weiter. Präsident Aleksandar Vučić nennt uns faul und sagt, wir würden nicht studieren wollen. Das stimmt nicht. Ich will nichts lieber als meinen Abschluss machen – mir fehlen nur zwei Prüfungen. Doch wichtiger als mein Abschluss ist, dass ich nach dem Studium in Serbien bleiben kann – ohne auswandern zu müssen, um ein gutes Leben zu führen. Jedes Jahr verlassen bis zu 60.000 Menschen das Land in Richtung Deutschland, Kanada oder USA.
Serbien verliert so viel, mit jedem Menschen, der sich entscheidet, auszuwandern. Es ist an der Zeit, ein funktionierendes System aufzubauen – zum ersten Mal in unserer Geschichte. Ein Banner der Proteste spricht mir besonders aus der Seele: „Es ist besser, das Land zu verändern, als es zu verlassen.“ Die Menschen in meinem Land hatten lange die Hoffnung verloren – doch ich glaube, dass sich das gerade ändert.
Marija Todorović, 27, Journalistin aus Belgrad
Ich schreibe seit 2018 für das Magazin Oblakoder und leite dort das Kulturressort. Oblakoder bedeutet auf Serbisch Wolkenkratzer. Das Magazin heißt so, weil die Gründer, fünf junge Journalisten, über das, was sich heute in Serbien Journalismus nennt, hoch hinausgehen wollten. Ich bin zwar keine der Gründerinnen, aber von Anfang an dabei. Wir finanzieren uns vor allem durch Spenden, Crowdfunding, Werbung und Mittel internationaler Stiftungen.
Viele Journalisten nehmen an den Protesten teil und unterstützen die Studierenden, von denen die Protestbewegung ausging, auch ich. Als Bürger Serbiens haben Journalisten auch das Recht, für ihre Freiheit zu kämpfen. Insbesondere in einem Staat, der von Korruption und Autoritarismus regiert wird. Ich sehe an dieser Stelle kein Dilemma zwischen Journalismus und Aktivismus. Die Menschen sind müde von der Stille und Apathie, und die Studierenden, die seit Monaten die Fakultäten besetzen, haben den Rest des Landes wachgerüttelt. Aus der Perspektive von Medienschaffenden brauchen wir endlich eine vielfältige und unabhängige Presselandschaft.
Die meisten Medien in Serbien sind vom Staat finanziert oder Teil der Klatschpresse. Auch hier regiert die Korruption. Die Löhne für Journalisten sind niedrig, und es gibt viel Mobbing und Diskriminierung am Arbeitsplatz.
In den herkömmlichen Medien finden die aktuellen Proteste entweder gar keine Erwähnung oder werden als vom Ausland finanziert und gewalttätig dargestellt. Währenddessen bekommen der Präsident Aleksandar Vučić und seine Partei fast ausschließlich positive Berichte über ihre angeblich fortschrittliche Politik.
Wir von Oblakoder nutzen zunehmend soziale Medien, um Informationen über und Videos der Proteste zu verbreiten. Viele Menschen nutzen Instagram oder Facebook, um sich zu informieren. Deshalb fokussieren wir uns aktuell darauf, gute und schnelle Inhalte dafür zu produzieren.
Nikolina Sindjelić, 22, ist politische Aktivistin aus Obrenovac
Seit 2023 bin ich Mitglied der Studentengruppe Kampf und des Jugendverbands der Oppositionspartei Volksbewegung Serbien. Doch ob ich einer Partei angehöre oder nicht, ist im Moment zweitrangig. Viel zu lange waren wir Serben in verschiedene Gruppen und kleine Parteien gespalten – dabei geht es um die Freiheit von uns allen.
Wir leben in einem Land, in dem der Präsident sagt, wir, die Demonstranten, seien nicht seine Bürger. Er hetzt Hooligans gegen uns auf. Bei einer Demonstration zückte ein älterer Mann ein Messer gegen Studierende. Mehrfach wurden Demonstrierende von Unbekannten angefahren und schwer verletzt. Niemand hat darauf reagiert – im Gegenteil: Der Präsident hat uns als ausländische Söldner bezeichnet. Die Regierung drohte uns mit dem Entzug von Stipendien und Wohnheimplätzen. Trotzdem kämpfen wir weiter gegen diesen aggressiven Staat an. Wir werden niemals jemanden angreifen oder verletzen.
Natürlich habe ich auch Angst. Drei Tage nach den ersten Protesten in Novi Sad, im November, erhielt ich um acht Uhr morgens einen anonymen Anruf. Eine männliche Stimme, die sich nicht vorstellte, forderte mich auf, zu einem „informativen Gespräch“ auf die Polizeiwache zu kommen. Ich fragte nach seinem Namen und bestand darauf, nur mit meinem Anwalt zu erscheinen. Keine Antwort von der Stimme – also legte ich auf. Zehn Minuten später bekam ich einen Anruf von einem anderen Polizisten. Er sei für meinen Fall zuständig und lud mich offiziell zu einem Gespräch auf die Wache in Neu-Belgrad ein. Ich ging mit meinem Anwalt hin.
Das Gespräch verlief überraschend höflich, doch die Fragen waren unangebracht: Ob ich Kamala Harris oder Donald Trump bevorzuge, was ich von Belgrads Bürgermeister Aleksandar Šapić oder der Parlamentspräsidentin Ana Brnabić halte. Auch zu Aktivisten und politischen Persönlichkeiten wollten sie meine Meinung hören. Ich kenne meine Rechte. Jedes Mal, wenn sie eine grenzüberschreitende Frage stellten, berief ich mich darauf. Dann sagten sie, dass sie mich seit über einem Jahr beobachteten – und meine Teilnahme an den Protesten in Novi Sad eine rote Linie sei, die ich nicht hätte überschreiten dürfen.
Seit diesem Gespräch hatte ich keinen weiteren Kontakt mit der Polizei. Ich fühle mich weiterhin beobachtet. Einschüchtern lasse ich mich dennoch nicht.
Ivan Karadarević, 50, Gymnasiallehrer aus Kragujevac
Ich unterrichte seit 23 Jahren Philosophie und Rhetorik am Zweiten Gymnasium in Kragujevac, der viertgrößten Stadt Serbiens. Ich selbst stamme aus dem westlichen Teil Serbiens, der Stadt Bajina Bašta.
Meine Schüler, die alle kurz vor ihrem Abschluss stehen, halten unsere Schule aktuell besetzt. In der gesamten Stadt ist dies an fünf Schulen der Fall. Die Schüler haben das selbst in einem Plenum entschieden. Wir Lehrer unterstützen sie in beratender Funktion.
Aber auch wir Lehrer streiken, und das nicht zum ersten Mal. Es geht uns längst nicht nur um die Katastrophe in Novi Sad. Schon im September 2024 demonstrierten wir unsere Unzufriedenheit mit unseren viel zu niedrigen Gehältern und der Missachtung des Tarifvertrags, den der Staat und die Gewerkschaften zuvor unterzeichnet haben. Wir forderten mehr Respekt für unseren Beruf ein, indem wir die Unterrichtsstunden an einem Tag in der Woche von 45 auf 30 Minuten verkürzten. Seit dem 20. Januar, an dem eigentlich das zweite Schulsemester beginnen sollte, haben viele Bildungsangestellte ihre Arbeit komplett niedergelegt.
Es ist kein gewerkschaftlicher Streik, da die Gewerkschaften ein Streikmoratorium verhängt haben. Unsere Arbeitsniederlegung ist damit illegal, aber wir müssen unsere Forderungen durchsetzen. Außerdem unterstützen wir die Forderungen der Schüler und Studierenden.
In meiner Stadt haben sich die Vertreter der Schulen zunächst über
das Plenum aller Schulen organisiert, mittlerweile nennen wir uns „Forum
der Kragujevacer Schulen“. Wir treffen uns regelmäßig, um aktuelle
Ereignisse und Bedürfnisse zu besprechen.
Am 4. Februar hat unser Forum alle Bürger, Landwirte, Schüler, Studenten und Lehrer zu einer Protestversammlung aufgerufen, und es war wirklich majestätisch. Tausende von Menschen nahmen an dem Marsch zur Schulbehörde teil, wo wir Briefe und Nachrichten von Schülern und Lehrkräften hinterlegten. Die Polizei war überraschenderweise sehr höflich. Die Proteste sind friedlich und bürgerlich. Politiker sind dort nicht willkommen, weil wir keine Vereinnahmung unserer Demonstrationen möchten.
Lehrer und Dozenten spüren aber auch Druck von oben. Das Ministerium droht mit Bildungsinspektionen und erstellt Listen von Mitarbeitern, die die Arbeit niedergelegt haben. Unter den Mitarbeitern herrschen Angst und Zweifel, häufig wird von Entlassungen gesprochen. Aber wir lassen uns nicht unterkriegen, denn wir sind viele und halten zusammen.
Auch die Eltern meiner Schüler unterstützen größtenteils unser Vorgehen. Natürlich gibt es auch andere Meinungen, aber wir versuchen, Konflikte zu vermeiden, und reagieren nicht darauf. Die Unterstützer der Regierung haben versucht, Unruhe zu stiften, dennoch wachsen die Proteste immer weiter an.
Igor Jovanović, 24, studiert Biochemie in Belgrad
Für mich war der Protestmarsch Ende Januar von Belgrad nach Novi Sad ein Ereignis, das ich nie vergessen werde. Unsere Reise begann an der Fakultät für bildende Künste in Belgrad, dem Ausgangspunkt der Proteste. Ganze 80 Kilometer legten wir bis zum Bahnhof in Novi Sad zurück, dem Ort der Tragödie. In jedem Ort, den wir passierten, brachten uns die Menschen Essen – Gulasch, Gebäck, Schokolade, Energydrinks. Es war so viel, dass wir die Lebensmittel weitergaben, an Menschen, die wir unterwegs trafen. Viele bedankten sich bei uns für den Protest. Wir wurden in Novi Sad wie Befreier empfangen, als wir nach fast drei Tagen Marsch dort ankamen.
Die Angst in der Gesellschaft ist endlich weg. Die Menschen haben genug von diesem System. Jeden Tag sehen wir die Missstände im Land: Die Preise sind gigantisch, die Löhne sind niedrig. An meiner chemischen Fakultät tropft es in die Säle, weil sie nicht renoviert werden. In meinem Viertel sind die Straßen so marode, dass Autos kaum fahren können. Es fühlt sich an, als hätten wir mit unserem Protest die Gesellschaft aus einem Halbschlaf geweckt. Während unseres Protestmarsches spürte ich so viel positive Energie unter uns Serben wie noch nie. Trotz Kälte und Schmerzen gab niemand auf dem Weg auf.
Auf halber Strecke übernachteten wir im Fußballstadion der kleinen Stadt Indjija. Die Bewohner verteilten Decken, Schlafsäcke und Kissen. In der Nähe des Dorfes Maradik tauchten plötzlich Traktoren überall um uns herum auf. Die Bauern aus dem Dorf boten uns an, jeden, der zur Toilette muss, zu sich nach Hause zu fahren. Später in Novi Sad erwarteten uns Abertausende von Menschen. Ich habe noch nie so viele Menschen an einem Ort gesehen. Gemeinsam gingen wir zum Bahnhof der Stadt, legten Blumen nieder und schwiegen 15 Minuten für die Opfer des Unglücks im November. Am nächsten Tag blockierten wir bei einer Großkundgebung drei Brücken in Novi Sad. Manche Medien berichteten von 300.000 anwesenden Menschen auf der Demonstration. Es waren auch Menschen aus den umliegenden Orten dabei, Bauern, Biker, Rentner, Familien.
Nach den Reden tauchten Freiwillige mit Müllsäcken auf und begannen, den Platz sauber zu machen. Das hat mich am meisten bewegt. Wir zeigen, was es heißt, ein guter Bürger zu sein. Patriotismus bedeutet nicht, mit einer Flagge zu wedeln, sondern auch Sorge für die Gemeinschaft zu übernehmen und hinter sich aufzuräumen.