Natalie Portman und Julianne Moore in „May December“: Verbotene Liebe
Auf den Blättern einer Pflanze, die sich im Wind bewegt, kauert ein leuchtend bunter Schmetterling im Zwielicht. Viel zu nah kommt die Kamera der Szene, so dass ihre Konturen verschwimmen und die florale Idylle ins Unheimliche kippt. Auf den monströsen, weit geöffneten Blütenkelchen lässt sich der Falter nieder, um an ihnen zu saugen, während dazu messerscharfe Klavierakkorde von Michel Legrand akustisch ein Verhängnis ankündigen.
Sie stammen ursprünglich aus dem britischen Drama Der Mittler von 1971, in dessen Zentrum ein Trauma steht, auf das die Protagonisten erst am Ende ihres Lebens zurückblicken können. Auch in Todd Haynes’ Film, der das musikalische Schlüsselthema Legrands immer wieder aufgreift und variiert, ist eine sexuelle Transgression bereits vor Jahrzehnten geschehen. Sie blieb jedoch nicht im Verborgenen, sondern wurde landesweit von der Regenbogenpresse ans Licht gezerrt: Eine zum Zeitpunkt des Geschehens 36-jährige Frau ist ein Verhältnis mit einem 13-jährigen Jungen eingegangen. Die daraus entstandene Schwangerschaft trug sie als verurteilte Sexualstraftäterin hinter Gittern aus. Nach ihrer Entlassung und der Volljährigkeit des Jungen heirateten beide unter den Augen einer fassungslosen Öffentlichkeit.
Drehbuchautorin Samy Burch nähert sich dem Fall über eine doppelbödige Figurenkonstellation: 20 Jahre nach dem Skandal besucht die Schauspielerin Elizabeth Berry (Natalie Portman) das Paar, um die Hintergründe der Geschichte für eine Spielfilm-Adaption zu recherchieren, in der sie selbst die Hauptrolle übernommen hat. Hinter ihrer professionellen Empathie und Freundlichkeit zeigt sich schon bald eine berechnende, geradezu vampirische Zielstrebigkeit, mit der sie jedes Detail in ihrem Notizbuch festhält. Gracie Atherton-Yoo (Julianne Moore) erweist sich als widerständiges Studienobjekt. Bereitwillig stellt sie Elizabeth zwar Informationen über ihr gemeinsames Leben mit Joe (Charles Melton) zur Verfügung, verliert dabei aber nie die Kontrolle über das von ihr subtil beherrschte Umfeld.
Fäkalien in der Post
Auf die kontroverse Vergangenheit des Paares scheint zunächst nichts mehr hinzuweisen. Mit der Ankunft von Elizabeth kehren die vermeintlich bewältigten Erinnerungen jedoch auf untergründige Weise zurück. In einem vor dem Haus liegenden Paket, das die Schauspielerin wie ein Gastgeschenk übergibt, befinden sich Fäkalien ohne Absender, die Gracie und Joe ohne viel Aufhebens entsorgen. Die Bewohner der Kleinstadt Savannah haben, im Gegensatz zu den beiden, offensichtlich nicht mit den Geschehnissen abgeschlossen. Wenn Elizabeth auf der Suche nach weiteren Interviewpartnern durch die mit Spanischem Moos verhangenen Alleen fährt, erzeugt das gespenstisch durch die Bäume fallende Licht eine Atmosphäre, wie man sie aus dem Genre des American Gothic kennt. Abrupt unterbrechen dramatische Zooms der Kamera die Idylle, musikalisch untermalt von Marcelo Zarvos beunruhigendem Soundtrack, der das Geschehen dadurch akustisch entgleisen lässt.
Als Gracie ihren devoten Ehemann ermahnt, weil er sich schon das zweite Bier aufgemacht hat, oder der Sohn beim Gespräch über die Vergangenheit aggressiv den Tisch verlässt, zeigen sich Risse in der Erzählung von der alles rechtfertigenden großen Liebe. Lange verharrt die Kamera auf einem unangerührten Glas Milch, das Gracie dem gemeinsamen Kind mit Nachdruck zum Abendessen vorsetzt und das eine Reminiszenz an Hitchcock bildet. Begierig saugt Elizabeth disparate Einzelheiten in sich auf, um sie sich für ihre Rolle zu eigen zu machen, die zusehends mit der eigenen Persönlichkeit verschwimmt. Es genügt ihr nicht, die Tierhandlung aufzusuchen, in der die Affäre von Gracie und Joe vor Jahrzehnten begann, sie lässt sich auch den Lagerraum zeigen, in dem die Übertretung stattgefunden hat. Im unwirklichen Licht der Terrarien legt sie sich auf den Boden, um sich einer Szene hinzugeben, in der die Grenzen zwischen Method Acting und eigener Fantasie zusehends verschwimmen.
Wiederholt sieht man die beiden Frauen, die voneinander ebenso fasziniert wie abgestoßen sind, gemeinsam in einen Spiegel blicken. Ähnlich wie in Ingmar Bergmans Persona wird die machtvolle Undurchsichtigkeit der einen Frau zur Obsession der anderen, die ihr ähnlich werden will. In der Figur der Elizabeth spiegelt sich auch das mit der sexuellen Transgression verbundene sensationalistische Begehren der medialen Öffentlichkeit auf kritische Weise wider. Dass Gracie weder Schuld noch Scham über ihre Tat empfindet und bezüglich ihrer Beziehung zu Joe weder Zweifel noch Reue zeigt, provoziert zugleich die Zuschauer, nach einer psychologischen Erklärung zu suchen, die der Film jedoch als vergiftetes Geschenk präsentiert.
Allzu vertraut sind die US-amerikanischen Diskurse um Traumata, welche die Ursächlichkeit von Täterschaft erklären sollen. Wenn Gracie mit Gewehr und Spürhunden jagen geht und mit kalter Präzision ihre Beute in den Blick nimmt, verlieren die Gerüchte über den Missbrauch in ihrer eigenen Kindheit ihre erklärende Kraft. Die dahinter auftauchende Beobachtung ist unangenehm, weil sie das Bedürfnis nach sozialen Deutungsmustern erschüttert: Vielleicht resultieren Gracies Selbstbezogenheit und die manipulative Dominanz ihrer Verleugnung nicht aus eigener Verletzung, sondern sind Modus eines machtvollen Genießens, das die Abhängigkeit anderer ausnutzt. Die Begründungslosigkeit dieser Gewalt, die Haynes hier vorführt, ist auf produktive Weise beunruhigend, weil sie die Zuschauer auf anthropologische Grundfragen zurückwirft. „Ich bin immer naiv gewesen“, säuselt Gracie mit ihrem kindischen Lispeln einmal Elizabeth zu. „In gewisser Weise ist das ein Geschenk.“
May December Todd Haynes USA 2023, 117 Minuten