Münchner Opernfestspiele: Das große Nichts vor und nachdem dem Weltuntergang

Ach, wie lustig! Nähert man sich dem Münchner Nationaltheater vom Max-Joseph-Platz her, erstrahlen die Säulen des hohen Hauses in Weiß-Bläulich-Magenta, und oben auf dem Dach weht eine weiß-bläulich-magentafarbene Fahne – eine kleine Reminiszenz an die Fußball-EM, an die Verschwisterung von Kunst und Sport? Drinnen, bei den Garderoben, finden sich wiederum lustige bunte Touchpoints, die, sobald man sie drückt, autohupen, fahrradklingeln oder trillerpfeifen. Das sind, man ahnt es, Geräuschzitate aus György Ligetis Nonsens-Oper Le Grand Macabre, mit der die Münchner Opernfestspiele jetzt eröffnet wurden. Und man ahnt auch, wie mutig sich die Verantwortlichen bei der Wahl dieses Stückes vorgekommen sind: eine beißende Satire auf das große Nichts vor und nach dem Weltuntergang, auf faschistoide Gesellschaften, schweinsköpfige Höllenfürsten und auf die Oper selbst. In München!

Ligeti, der seine Heimat Ungarn nach dem Volksaufstand 1956 für immer verließ, schrieb Le Grand Macabre Mitte der Siebzigerjahre und revidierte die Partitur noch einmal Mitte der Neunziger. Diese Fassung wird in München gespielt, und je mehr die Musik parodiert, travestiert, chiffriert und sich in sinnlich-vergnüglich-pralle Vexierbilder versteigt, desto stärker wird die Betrachterin von einer Art Vergangenheitsekel erfasst. Fast ist es Mitleid. Faschismus-Kritik auf der Opernbühne, gähn! Straßenkrach statt Arien und Koloraturen, miau! Und am Ende war alles nur ein Albtraum, nee!

Lässt man aber etwas Geduld walten mit der Aufführung (und sich selbst), gelingt diesem Abend etwas wundersam Zeitgenössisches. Indem der Regisseur Krzysztof Warlikowski und seine Bühnenbildnerin Małgorzata Szczęśniak sich jeder Aktualisierung enthalten und den großen Makabren nicht als Putin oder Trump oder Xi zeichnen, auch nicht in dessen Hofstaat Ampelkoalitionäre wittern oder die Chefin der Geheimpolizei Gepopo als Giorgia Meloni kostümieren, bleibt alles Szenische Bebilderung und letztlich luxuriös-illustrativ – und lässt einen kalt. Kalt blickt man auf den Hochsicherheitsknast, in den die Menschen, die die ganze Zeit über auf Koffern gewartet haben, am Ende gepfercht werden; kalt blickt man auf den Riesenkometen, der unseren Planeten pulverisiert und zerstört. So kalt und abgebrüht, wie man 2024 eben auf Naturkatastrophen und Unmenschlichkeit blickt. Kein schönes Gefühl, aber ein wahres.

Musiziert wird famos. Der Dirigent Kent Nagano feiert bei der Rückkehr an seine alte Münchner Wirkungsstätte mit Le Grand Macabre einen Triumph. Partituren wie diese, die ein Höchstmaß an Organisationstalent und Präzision erfordern, beherrscht er derzeit wie kein Zweiter. Auch gesungen wird auf absolutem Weltniveau (Michael Magy! Sarah Aristidou! John Holiday! Benjamin Bruns!). Das Motto der diesjährigen Opernfestspiele übrigens lautet, frei nach dem portugiesischen Dichter Fernando Pessoa: „Ein Brunnen, der in den Himmel schaut“. Daher also die weiß-bläulich-magentafarbene Anmutung des Nationaltheaters. Das muss man aber nicht unbedingt wissen.