Mercedes: Ohne Hände am Steuer im Kontext Tempo 95 – Nächster Meilenstein beim autonomen Fahren – WELT

Mercedes entwickelt seinen Autopiloten weiter: Er fährt jetzt auf der Autobahn eigenständig mit bis zu 95 km/h einem anderen Auto hinterher. Eine Testfahrt zeigt den erstaunlichen Entspannungseffekt – aber auch, welche starken Einschränkungen es im Betrieb noch gibt.

Schon kurz nach der Auffahrt auf die Autobahn leuchten die beiden weißen Lichter der Tasten am Lenkrad auf. Ein Druck darauf – und der Mercedes übernimmt das Steuer. Der deutsche Premium-Autohersteller hat seinen Autopiloten eine Stufe weiterentwickelt und damit einen neuen Anwendungsfall für das autonome Fahren erreicht. Der „Drive Pilot“, erhältlich als teures Extra in der S-Klasse und im elektrischen EQS, fährt souverän und eigenständig, das zeigt eine Testfahrt auf der Berliner Autobahn. Es gibt allerdings starke Einschränkungen.

Für Mercedes-Benz ist das System sein wichtigstes technologisches Aushängeschild. Als erster Autohersteller weltweit hat das Unternehmen vor zwei Jahren die Zulassung dafür bekommen, in Deutschland und den USA. Der „Drive Pilot“ übernimmt in bestimmten Situationen die Fahraufgabe vollständig, die Verantwortung geht vom Fahrer auf das Auto über. In der Fachsprache ist von einem Level-3-System die Rede. Bisher verfügt kein Konkurrent über ein ähnliches, amtlich zugelassenes System – mit Ausnahme von BMW.

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Allerdings ist der Anwendungsbereich noch stark begrenzt. Die Bayern und die Schwaben gehen bei der Entwicklung ihrer Fahrautomaten sehr vorsichtig vor. Bisher konnten beide Systeme auf der Autobahn im stockenden Verkehr mit bis zu 60 Kilometern pro Stunde mitrollen. Steigt das Tempo, schaltet sich der Automat aus und übergibt an den Menschen. Ein sehr überschaubarer Einsatzbereich.

Jetzt geht Mercedes den nächsten Schritt: Die S-Klasse kann sich auf der Autobahn hinter langsame Fahrzeuge klemmen und selbstständig mitrollen. Das geht bei Geschwindigkeiten von bis zu 95 Kilometern pro Stunde und nur auf der rechten Spur. Auf der Testfahrt von Berlin in Richtung Potsdam zeigt sich, für welchen Anwendungsfall das gedacht ist: Rechts fahren auf der Autobahn fast immer Lkw, in der Regel maximal 90 Kilometer pro Stunde schnell. Wer etwa eine lange Strecke zurücklegt, kann sich mit seinem Wagen hinter diese Kolonne klemmen und während der Fahrt ausruhen.

Das klappt im Test auf Anhieb. Kaum hat der elektrische EQS ein Auto vor sich auf der rechten Spur ausgemacht, bietet der Autopiloten die Übernahme an. Ist er aktiviert, leuchten türkisfarbene Lämpchen am Lenkrad. Jetzt kann der Fahrer aus dem Fenster schauen, die Augen schließen oder seinen Beifahrer beim Sprechen ansehen. Wir spielen eine Runde „Memory“ auf dem Bildschirm in der Konsole und starten danach einen Kinofilm. Das Gefühl ist ungewohnt, auf dem Fahrersitz über die Autobahn zu rollen, ohne Pedale oder Lenkrad zu berühren. Aber der Entspannungseffekt ist nicht zu leugnen.

Leider ist der Autopilot bisher nur ein System für Idealbedingungen. Auf der kurzen, lebhaften Strecke bei Berlin blinken mehrmals die roten Lichter am Lenkrad. Das heißt: Der Fahrer muss binnen zehn Sekunden übernehmen, mindestens einen Knopf am Steuer drücken. Tut der das nicht, dann ruckelt der Mercedes am Gurt. Spätestens dann ist man zurück im klassischen Fahrmodus. Einmal setzte das System aus, weil die rechte Spur vor dem Wagen plötzlich frei war. Ein andermal, weil die Sonne von vorn geblendet hat und die Kamera die Straße nicht richtig erkennen konnte.

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Die Nachfrage nach dem System, das als Extra fast 6000 Euro kostet, ist bisher wohl überschaubar. Mercedes gibt keine Zahlen dazu preis. Man hoffe aber darauf, dass die S-Klasse- und EQS-Kunden die neue Variante häufiger bestellen werden. Ab Januar soll die Erweiterung auf 95 Kilometer pro Stunde per Software-Update in Deutschland verfügbar sein – sofern das Kraftfahrtbundesamt bis Ende des Jahres die Genehmigung erteilt. Es wäre dann auf 13.191 Kilometern deutscher Autobahn einsetzbar, abzüglich der Tunnel.

Wenn sich der „Drive Pilot“ ausschaltet, haben die Wagen immerhin noch ein Level-2-System an Bord, also einen Fahrassistenten, wie ihn andere Hersteller auch anbieten. In diesem Modus hält der Mercedes die Spur, das Tempo, den Abstand zum vorausfahrenden Wagen. Neu ist: Er wechselt auf der Autobahn selbstständig die Spur, bei Geschwindigkeiten zwischen 80 und 140 Kilometern pro Stunde. Der Fahrer muss die Hände am Lenkrad halten, der Wagen macht aber im Prinzip alles allein. Das funktioniert auf der Testfahrt sehr flüssig – aber eben nur auf der Autobahn.

Tesla ist mit seinem System namens Full Self Driving deutlich weiter. Dieser Level-2-Assistent folgt auch in der Stadt in den USA selbstständig seiner Route, wechselt Spuren, biegt ab, hält an roten Ampeln. Allerdings hat dabei der Fahrer immer die Verantwortung. Nach vielen spektakulären Unfällen ist das System heftiger Kritik ausgesetzt, in den USA laufen Untersuchungsverfahren der Behörden.

In noch einem Punkt zeigt Mercedes an diesem Tag in Berlin, wie die Entwicklung des automatisierten Fahrens weitergeht: Der Parkassistent, den es in fast allen Fahrzeugen des Herstellers als Extra gibt, ist schneller geworden. Die Steigerung hört sich minimal an, von zwei auf vier Kilometer pro Stunde erhöht sich die Geschwindigkeit.

Doch der Test auf einem Parkplatz zeigt, dass beispielsweise die E-Klasse mit dem neuen Assistenten etwa so schnell einparkt wie ein Mensch. Allerdings deutlich eleganter und präziser. Selbst per App lässt sich das System steuern, dazu muss der Fahrer aber neben dem Auto stehen, das Umfeld im Blick und sein Smartphone in der Hand haben. Ähnlich wie bei Tesla.

Daniel Zwick ist Wirtschaftsredakteur und berichtet für WELT über alle Themen aus der Autoindustrie.

Source: welt.de