Medizinische Lage in Gaza: „Es sind Amputationen nötig, die normalerweise vermeidbar wären“

Das Internationale Komitee vom Roten
Kreuz (IKRK) hat in Rafah ein Feldkrankenhaus mit 60 Betten eingerichtet.
Beteiligt sind zwölf
nationale Rotkreuzgesellschaften, darunter die deutsche. Hier spricht
Christof Johnen, Leiter der internationalen Zusammenarbeit beim Deutschen Roten
Kreuz, über die langwierigen Verhandlungen mit den Kriegsparteien, den seit
einer Woche laufenden Betrieb des Krankenhauses und die medizinische Lage vor
Ort.
 

ZEIT ONLINE: Herr Johnen, wie baut
man in einem Kriegsgebiet ein Krankenhaus? 

Johnen: Die Planung hat
bereits im Oktober begonnen. Wir haben zunächst Erkundungsteams geschickt, um
einen passenden Ort zu finden. Für ein Krankenhaus braucht man ungefähr die
Fläche eines Fußballfeldes. Der Untergrund muss geeignet sein, er darf zum
Beispiel nicht verschlammen und muss eben sein. Und natürlich spielten
Sicherheitserwägungen eine Rolle. Am Ende fiel die Wahl auf ein unbebautes
Küstengebiet im Norden von Rafah.

ZEIT ONLINE: Mit welchen Akteuren
musste das Rote Kreuz dafür sprechen? 

Johnen: Es wurden mit allen
Konfliktparteien viele Gespräche geführt. Auf palästinensischer Seite gibt es
formelle und informelle Gesprächspartner, allen voran natürlich das
Gesundheitsministerium, das der Hamas unterstellt ist. Die Ansprechpartner sind
uns bekannt, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz ist seit dreißig Jahren in
Gaza aktiv, das Deutsche Rote Kreuz seit mehr als zehn Jahren. 

ZEIT ONLINE: Wenn mit der Planung
im Oktober begonnen wurde – warum hat es so lange gedauert, das Krankenhaus
einzurichten? 

Johnen: Die Gespräche mit den
Konfliktparteien waren langwierig.
Es hat lange
gedauert, bis ein Standort gefunden war, der sich für ein Krankenhaus eignet
und dem beide Seiten zustimmten. Er ist auch nicht perfekt, aber in
einer so dicht besiedelten Region wie Gaza sind geeignete Plätze rar. Dazu
kommt, dass die Regularien für die Einfuhr der Materialien und Geräte sehr
kompliziert ist. Die israelischen Behörden wollen verständlicherweise
kontrollieren, was in das Gebiet kommt. Doch insbesondere für medizinische
Hilfen braucht es eindeutige Regularien. Medizinische Güter wie Medikamente,
Verbandsstoffe, Krücken und Rollstühle einzuführen war von Beginn an schwierig,
und es kam zu Zurückweisungen.

ZEIT ONLINE: Was bedeutet das für
die medizinische Lage in Gaza? 

Johnen: Der Bedarf für
medizinische Versorgung ist in den vergangenen Monaten immer weiter gestiegen.
Zum einen sind da die Verletzten durch Kampfhandlungen. Aber viele Menschen benötigen
auch wegen der Lebensbedingungen medizinische Versorgung. Sie sind schon mehrfach
vertrieben worden, sie leben in Zelten und Notunterkünften. Unter solchen
Bedingungen treten viele Erkrankungen auf: Atemwegsinfektionen, Durchfall,
Hauterkrankungen. In unmittelbarer Nähe von Gesundheitseinrichtungen fanden
intensive Kampfhandlungen statt. Von 36 Krankenhäusern in Gaza sind nur etwa 12 bis 15 teilweise in Betrieb. Aber die konkrete
Zahl ist nicht entscheidend. Die medizinische Kapazität ist insgesamt drastisch
zurückgegangen, während der Bedarf gleichzeitig drastisch gestiegen ist. Unser
Krankenhaus leistet also einen Beitrag, es ist aber längst nicht alles gut.

ZEIT ONLINE: Welche Verletzungen
behandelt ihr Team in Rafah?

Johnen: Verletzte machen
einen erheblichen Teil der Patienten aus. Darunter sind auch viele Kinder. Wir
sehen eher selten Schusswunden, was überwiegt, sind Verletzungen durch
Explosionen. Es sind sehr viele Brandwunden dabei. Diese sind in der Versorgung
schwierig und langwierig. 

ZEIT ONLINE: Wie kann man Patienten
und Personal schützen?

Johnen: Die Konfliktparteien
akzeptieren die Einrichtung. Unsere größte Sorge ist daher, dass das
Krankenhaus versehentlich getroffen wird. Es ist rundum eindeutig mit dem
Emblem des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz gekennzeichnet. Außerdem gibt es einen 24-Stunden-Wachdienst, und
Waffen sind auf dem Gelände verboten. Vollständige Sicherheit gibt es aber in
einer solchen Lage nicht. Zwar liegt das Krankenhaus in einiger Entfernung zu
dem Gebiet in Rafah, in dem die Kampfhandlungen besonders intensiv sind.
Aber es wird auch an vielen anderen Stellen von Gaza gekämpft. 

ZEIT ONLINE: Wie kann man sich die
Arbeit in dem Krankenhaus vorstellen?

Johnen: Die Belegschaft hat
viel Erfahrung in der Versorgung von Verletzten und in der Kriegschirurgie,
etwa aus Einsätzen in Afghanistan oder in afrikanischen Ländern. Die Kollegen und Kolleginnen machen das nicht zum
ersten Mal. Sie können unter Bedingungen arbeiten, die nicht einer deutschen Uniklinik entsprechen. Es handelt sich um Ärztinnen und Ärzte, um Pflegende,
aber auch um Technikerinnen und Techniker sowie Verwaltungsmitarbeitende. Das
sind überwiegend Menschen, die in ihren Heimatländern in ihren normalen Jobs arbeiten.
Einer meiner internationalen Kollegen, der in der technischen Planung des
Krankenhauses vor Ort war, ist Ingenieur und hat zu Hause ein Bauunternehmen. Viele
Kolleginnen und Kollegen werden von ihren Arbeitgebern für solche Missionen freigestellt.
Derzeit rotieren wir etwa alle sechs bis acht Wochen. Das wird allerdings
dadurch erschwert, dass durch die Schließung des Grenzübergangs Rafah derzeit
unklar ist, wie gut und zügig die Rotationen erfolgen können.

ZEIT ONLINE: Gerade haben die UN
gemeldet, die Lebensmittelversorgung von Rafah vorerst einstellen zu müssen. Wie steht es um die
Versorgung mit medizinischen Gütern? 

Johnen: Die Lage wird noch
dramatischer, es kommen nicht annähernd ausreichend Hilfsgüter in das Gebiet. Die unzureichende Verfügbarkeit
von medizinischem Material und Medikamenten hat konkrete Folgen, etwa, dass in
den bestehenden Krankenhäusern teilweise Amputationen durchgeführt werden
mussten, die normalerweise vermeidbar gewesen wären.


Satellitenaufnahme vom neuen US-Pier

ZEIT ONLINE: Die USA haben in der
Nähe von Gaza-Stadt ein Pier eingerichtet, über das die
Bevölkerung versorgt werden soll. Hat sich die Lage dadurch verbessert? 

Johnen: Die Kapazität
des Piers ist nicht so groß, wie man meinen könnte: Derzeit können etwa 150 Lkw-Ladungen pro Tag ankommen, momentan sind es eher 90 bis 100. Für eine
minimale Versorgung Gazas bräuchte es aber mindestens fünfmal so viel.
Die Schwierigkeit ist zudem die Weiterverteilung, die
bislang nicht funktioniert
, da in der Gegend noch immer häufig
gekämpft wird. Unserer Schwestergesellschaft, dem Palästinensischen Roten Halbmond,
ist es derzeit nicht möglich, am Pier ankommende Hilfsgüter in Empfang zu
nehmen und sicher zu verteilen.