Madame Nielsen: Denen zusehen, die berühmt sind


Madame Nielsen Verlag Kiepenheuer & Witsch Mein Leben unter den Großen

Ist erst seit 2018 auf dem deutschen Buchmarkt zu haben, aber schon ein Liebling: Madame Nielsen.

Wer interessiert sich in Deutschland für dänische Literaturgeschichte? Wer mag allen Ernstes ein Buch lesen, das von einer Reihe echter oder eingebildeter Begegnungen handelt, die zwischen Größen der dänischen Gegenwartsliteratur und dem Gesamtkunstwerk Madame Nielsen stattgefunden haben mögen? Das kann doch bloß eine Minderheit sein, mag man meinen – zumal Madame Nielsen, vormals Claus Beck-Nielsen, hierzulande erst seit 2018 auf dem Buchmarkt zu finden ist. Und wird überrascht: Madame Nielsens Roman Mein Leben unter den Großen hat nicht nur einiges an medialer Aufmerksamkeit bekommen. Letzte Woche wurde die Autorin auch mit dem Wolfgang-Koeppen-Preis für Literatur der Stadt Greifswald ausgezeichnet. Die Laudatio hielt Christian Kracht.

Das ist bemerkenswert, weil dieses Buch, bis auf wenige Ausnahmen wie Fräulein Smilla-Bestseller Peter Høeg, von Begegnungen mit Autoren handelt, die kaum zu den internationalen Berühmtheiten zählen. Aber es ist eben auch für Nichteingeweihte ungeheuer unterhaltsam. Und zwar in einem metaphysischen Sinne. Jede Episode kreist nämlich um die Frage, was einen Künstler erkenntnistheoretisch ausmacht. So gibt der Erzähler an, er wollte als junger Mann Peter Høeg sein, „ein Alle- und Alleskönner, der sich nie entscheiden braucht, weil ihm alles auf einmal gelingt: die Pariser Schauspielschule besuchen, Wüsten durchwandern, Swahili sprechen, fechten, Ballett tanzen, Ski fahren, Berge besteigen, Romane schreiben, die sieben Weltmeere (alle zugleich!) besegeln, Vorträge halten, meditieren, wie ein Mönch aussehen und ein Mönch sein …“. Der Satz erstreckt sich noch über einige Zeilen, die den Wunsch auch in der Leserin reifen lassen, Peter Høeg sein zu wollen.

Der Spaß, den man hier hat, hat natürlich mit der Art und Weise zu tun, wie Madame Nielsen sich zum Werk ihrer Zeitgenossen verhält. Erst durch den Blick der Nielsen nämlich, die uns im Buch noch als der Nielsen begegnet, wird die dänische Gegenwartsliteratur zu einem Gebiet allgemeinen Interesses. Dabei geht es dem Erzähler nie nur ums Werk allein, sondern immer um den Mythos des Originalgenies. Und dem begegnet Claus Beck-Nielsen oft ganz privat. Zumindest in der Fantasie.

So erspäht er bei einer Radtour mit seiner Tochter am Kattegat den „Magier unter den Erzählern unseres Landes“. Der Bestsellerautor Ib Michael tritt nur mit einem Handtuch um die Hüften aus einem Hagebuttenbusch heraus wie der Messias persönlich. „Sein Gesicht wirkt entspannt, aber ein wenig charakterlos, plump, oder vielleicht eher schwammig, aber nicht wie ein alter Schwamm, nein, wie einer, den man durch das schillernde Licht des Korallenriffs in fünfzehn Fuß Tiefe hoch an die Oberfläche gebracht hat.“

Bei Madame Nielsen kann man lernen, wie man aus einem Fettnäpfchen behände wieder herauskommt, nämlich nicht nur, indem man über die sprachlichen Mittel verfügt, sondern auch indem man wie Beck-Nielsens Töchterchen die richtigen Fragen stellt: „Papa, flüstert sie, – warum steht er so da? – Wie meinst du? – So ein bisschen wie wenn er im Fernsehen wär. – Das ist er ja irgendwie auch. – Echt? – Schon, wir sind ja hier. – Glaubst du, er hat uns gesehen? – Nein, ich denke nicht, flüstere ich, – er ist es wohl einfach gewohnt, dass die Leute ihn anschauen, drum tut er ein bisschen so als ob, selbst wenn außer ihm gar keiner da ist. – Papa, ist er sehr berühmt? – Na ja, hier in Dänemark schon. – Vielleicht stellt er sich vor, dass das Meer ihn anschaut, und die Wellen, und die ganzen Steine, und die Sonne. – Glaubst du? – Ja, sagt sie. – So ist das wohl, wenn man ein großer Schriftsteller ist, sage ich, – für einen großen Schriftsteller haben alle Dinge eine Bedeutung, auch die kleinsten.“

Alles schwimmt davon

Die Szene und auch das ganze Buch enden damit, wie eine Legende ins Wasser steigt, „bis bloß noch der Kopf und die Schulterspitzen herausschauen, eine bronze schimmernde Kugel und zwei kleine, die in langsamen Zügen übers Wasser gleiten“. So schwimmt alles davon: Der Autor und sein Werk. Zurück am Ufer bleibt ein abgeworfenes Handtuch und ein Autor, der noch nicht berühmt ist, der aber die anderen dabei beobachtet, berühmt zu sein.

Interessant wird es immer an den Punkten, an denen sich Mythos in Alltag verwandelt. Etwa wenn der avantgardistische Schriftsteller Jens Christian Grøndahl sein Roman-Alter-Ego in Hundescheiße treten lässt und der ganz junge Claus Beck-Nielsen fortan den Geruch nicht mehr aus der Nase bekommt, sobald der Name Grøndahl fällt oder eins seiner Bücher herumliegt. Eine unerhörte Selbstbesudelung, findet Claus, „plötzlich sehe ich hinter der perfekten Oberfläche die allzu menschliche, vergängliche Eitelkeit, das kalkuliert Kandidelte.“

Es ist eine Freude, Madame Nielsen in ihre Nachdenklichkeiten zu folgen und mit ihr der Frage nachzugehen, weshalb etwa der greise Klaus Rifbjerg in seinem Gäste-WC zwei Klorollenhalter nebeneinander präsentiert. Sind es die Rollen für die „Zwei Körper des alten Königs“, wie die Überschrift mutmaßt: „Er beugt sich, wieder: wie ein mächtiger, alter Schlagbaum, und die Jacke oder der Cardigan, oder was immer es ist, schwingt unter ihm vor wie der ausgeleierte Bauch einer alten Sau die hunderte Ferkel in die Welt gesetzt hat, stellt das Glas Wasser vor meinem Sessel auf den Tisch und richtet sich auf, das braucht seine Zeit, und geht rüber zu seinem eigenen Sessel, beugt sich und legt eine Hand auf eine der Armlehnen, dreht sich und senkt das ganze große Lebenswerk in die Tiefe des Sessels hinunter.“

Aus der Tiefe des Sessels holt Madame Nielsen es dann wieder hervor, setzt sich selbst dazu in Beziehung, hält alles in Ehren, aber auch kafkahaft auf Abstand. Zwischen Traumreisen, WG-Realitäten und Familienverpflichtungen entsteht das Bild eines Künstlers, der heute von sich sagt: „Ich bin eine Öffnung ins Ungewisse.“ Aber eben auch: „Irgendwann in der Zukunft, an die keiner mehr glaubt, bin ich doch noch Schriftsteller geworden.“

Madame Nielsen: Mein Leben unter den Großen. Aus dem Dänischen von Hannes Langendörfer. Kiepenheuer & Witsch, 224 Seiten, 24 Euro