„Landkrank“ von Nicolai Schultz: Im Schmerz dieser Welt

Der Pariser Sommer konnte schon früher sehr heiß sein, aber jetzt ist er oft unerträglich – die 40 Grad-Grenze wird schon mal locker überschritten. Diese Qual ist der Ausgangspunkt des Essays Landkrank von Nikolaj Schultz, der mit dem kürzlich verstorbenen Bruno Latour zusammengearbeitet hat und oft schon als neuer Star am Soziologenhimmel apostrophiert wird. Der 1990 geborene dänische Wissenschaftler, der in Paris lebt, schreibt in der Ich-Form: Er kann nachts nicht schlafen. Klimaanlagen würden für noch mehr CO2 sorgen. Kann es noch richtig sein, philosophiert er, „ins Innere zu tauchen“, wie er seinen Landsmann Søren Kierkegaard verstanden hat? Nein, die Existenz hat sich „nach außen gewendet“. Wie bei Franz Kafka ein Mann als hässlicher Riesenkäfer aufwacht, erlebt er sich schlaflos als Ungeheuer. Früher haben europäische Menschen die ganze Erde entdeckt und unterworfen, jetzt entdecken sie, wie das Unheil auf sie selbst zurückschlägt.

Das Buch handelt davon, wie Schultz oder das erzählende Ich glaubt, fliehen zu können: auf die der französischen Südküste vorgelagerte Insel Porquerolles. Das ist ein wahres Ferienparadies. Doch das Ich sieht Spuren des Niedergangs und die Wut einer Einwohnerin. Die Fische zum Beispiel haben die Insel verlassen, sind nur zwischendurch einmal zurückgekehrt, als der Tourismus wegen Corona pausieren musste. Sie sind klüger als die Einwohner:innen, die sich einerseits über den Tourismus beklagen und ihn andererseits, weil er sich für sie bezahlt macht, nicht genügend einschränken.

Die Insel ist das Muster für den Zusammenhang aller Komponenten des ökologischen Problems. Weil sie klein, farbig und begrenzt ist, kann man sie leicht erklären. Schultz wiederholt Latours Erklärung: Wir müssten mit allen „Existenzen“ – worunter nicht nur Lebewesen, sondern alles ökologisch Einschlägige zu verstehen sei, also auch etwa unsere Computer mit ihrem CO2-Beitrag – in eine Art Verhandlung treten, darüber, wie wir unseren gemeinsamen Lebensraum gerecht unter uns aufteilen. Wir tun es aber nicht. Daher wird weitergefragt: Wer ist das Subjekt, das für solche Verhandlungen kämpft oder kämpfen sollte, und gegen wen würde sich der Kampf richten? Dass die Vorstellung absurd wäre, die Inselbewohner:innen sollten gegen die Tourist:innen kämpfen, haben wir gesehen. Dennoch spielt Schultz aus gutem Grund mit dem Gedanken.

Marktradikalisierung: Die neue Kolonisierung

Der indische Historiker Dipesh Chakrabarty erklärt in seinem Nachwort ausführlicher, was Schultz nur andeutet: Es ist etwas wie Kolonisierung, was den Inselbewohner:innen zustößt. Kolonisierung heißt, der Zivilisation von Indigenen wird eine andere, fremde übergestülpt. Aber wer, fragt Chakrabarty, sind dann die Kolonisatoren? Die Tourist:innen? Sie sind zu Hause doch selbst kolonisiert. Ihre Heimat geht genauso durch die Wirtschaft kaputt wie die der Inselbewohner:innen. Sie könnten das auf der überschaubaren Insel allenfalls besser begreifen.

Und doch führt diese Begrifflichkeit weiter, denn wir denken nun auch an die „Kolonisierung der Lebenswelt“, wie Jürgen Habermas vor Jahrzehnten schon das nannte, was ein alles durchdringender „Marktradikalismus“ in unserer Gesellschaft anrichtet. Die Kolonisierung, von der Habermas spricht, ist aber höchst paradox, denn sie kommt ihrem Subjekt zuvor, schafft es überhaupt erst. Will sagen, wenn da eine Zivilisation eine andere überformt, unterwirft und verändert, dann entsteht sie erst in diesem Vorgang. Das aber erleben wir zu Hause besser und klarer als auf Porquerolles. Was „kolonisiert“ uns? Zum einen eine Produktionsweise, zum andern eine Handvoll Leute, jene „happy few“ in der Weltbevölkerung, die am meisten von ihr profitieren. Und drittens wir selbst, weil wir den Wenigen nicht in den Arm fallen.

Was Schultz zur Produktionsweise ausführt, kann man vergessen; er beruft sich zwar auf seine „marxistischen Freunde“, meint aber trotzdem, das Übermaß der Waren, das die ökologische Katastrophe ausgelöst hat, sei „der Produktion“ überhaupt anzulasten statt einer historisch bestimmten. Sicher haben diese Freunde Schuld, man kennt sie ja: Sie interessiert wohl nur, wie man die immer größere Warenflut von oben nach unten verteilt.

Jene Wenigen kommen bei Schultz nur als die Reichsten vor statt als reichste Charaktermasken der Kapitallogik. Auch das ist schwach. Aber gerade hier gibt er den Hinweis, der das Buch allein schon lesenswert macht: Diese Reichsten sind jetzt dabei, sich entlegene Orte zu sichern, wo sie länger gut leben können, auch sich Bunker zu bauen. Darüber sind erste Berichte erschienen. Die „Exiters“, schreibt Schultz, „verabschieden sich von den zivilisatorischen Idealen eines Fortschritts für alle“. Er nennt keine Namen, spricht aber von „Techmilliardären“, die „Tesla-Autos ins All schießen“, und verweist so auf Elon Musk, den reichsten Mann der Welt. Und es stimmt buchstäblich: Musks Firma SpaceX hat beim ersten Start einer Falcon-Heavy-Rakete am 6. Februar 2018 einen Tesla Roadster, das ist ein Sportwagen, ins Weltall geschossen.

In diesem Bild also, das nicht nur ein Bild ist, verdichtet sich alles. Wir haben einen Exiter, der Elektroautos bauen lässt, ökologische Autos angeblich, jedenfalls schaffen sie Arbeitsplätze. Indem diese Autos mit Raumfahrt konnotiert werden, befördert der Exiter den Traum, wir alle könnten aussteigen, wird doch schon länger vom „Verlassen der Erde“ gefabelt und dieser Exodus von der Science-Fiction in den schönsten Farben ausgemalt. Nur stellt Schultz fest, dass die ökologische Katastrophe schon zu weit fortgeschritten ist, als dass sich der Traum noch rechtzeitig realisieren ließe. So bleibt nur, was Luisa Neubauer im Vorwort schreibt: „Dort, in der Dunkelheit, in unserer ganz eigenen Dunkelheit und auch im Schmerz der Welt, dort werden wir ehrlich. Und von dort aus, von der echten Dunkelheit aus, kann es nur heller werden.“ Das könnte von Kierkegaard sein.

Landkrank Nikolaj Schultz Michael Bischoff (Übers.), Suhrkamp 2024, 122 S., 15 €