Kolumne – Karuna-Kompass: Das Dilemma jener Zivilgesellschaft in einer Obdachlosenzeitung
Stimmt hier noch die Richtung? Dem Berliner Kompass, der vom Verein Karuna e. V. herausgegebenen Straßenzeitung, geht es in einer der jüngsten Ausgaben um Vielfalt. Jeder Mensch sei anders, außergewöhnlich, und zwar „aufgrund seines Alters, seiner Religion, Hautfarbe, seiner körperlichen Merkmale, seines Geschlechts, seiner sexuellen Orientierung, Sprache, Herkunft und unzähliger anderer Aspekte“. Das Konzept der Inklusion, lesen wir – gemeint sei die Vorstellung, dass alle Menschen gleichberechtigt und selbstbestimmt „an unserer Gesellschaft teilnehmen können“ –, mache diese Gesellschaft stark und widerstandsfähig. Wie wäre es dann mal mit der Inklusion von Niedriglöhnern, Alleinerziehenden, Stütze-Empfängern – und Obdachlosen? Für die Zeitung der Unbehausten offenbar kein Thema.
Gefühlt haben in Berlin noch nie so viele Menschen auf der Straße gelebt. In ihren Schlafsäcken sieht man sie in den Parks und in Hauseingängen liegen. In Biergärten betteln sie um Pfandflaschen. Bei der Inklusion à la Karuna e. V. ist ihre Not kein Thema. Die Juli/August-Nummer beschäftigt sich mit „inklusiver Mode“. 25 Studis des Masterprogramms „Sustainability in Fashion and Creative Industries“ der AMD Akademie Mode & Design Berlin haben ihr Bestes gegeben, heißt es im Editorial; sie haben Manifeste geschrieben, Design-Konzepte entwickelt und Prototypen erarbeitet. Etwa den „inklusiven Werkzeuggürtel“, der Angehörigen der „FLINTA-Gemeinschaft“ ein Zugehörigkeitsgefühl in einer männerdominierten Branche verschaffen soll (FLINTA steht für: Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nichtbinäre und trans Menschen sowie Agender, die sich keinem Geschlecht zugehörig fühlen). Die anderen Themen im Blatt: ähnlich. Gar nicht mal uninteressant das Interview mit dem Modelabel „Auf Augenhöhe“, das Kleidung für kleinwüchsige Menschen entwirft. Schön die vielen Fotos der Bestager-Modelle. Nur: All das ist Lichtjahre von der Lebenswelt der Menschen entfernt, die mit dieser Gazette in der U-Bahn oder auf der Straße betteln gehen. Der Karuna Kompass gibt sich weltoffen und urban, hat aber vergessen, worum es einmal ging: um Lobbyarbeit für jene, die keine Lobby haben. Ganze Seiten sind auf Englisch gedruckt. Die meisten Menschen, die in Berlin auf der Straße leben, sprechen Russisch oder Polnisch. Und das Lesepublikum der „Zeitung aus der solidarischen Zukunft“ dürfte kaum aus bilingualen Freelancern bestehen. Die meisten, die das Blatt kaufen, sind Pendler im Berufsverkehr mit müdem Herzen.
Das Dilemma der Zivilgesellschaft war selten so gut illustriert: Identitätspolitische Fragen nach Geschlecht, Ethnie und sexueller Orientierung sollten ursprünglich einmal den Blick auf die soziale Frage erweitern – nicht ersetzen.