Jahreswechsel: Was war gut – welches war schlecht?

Der verstorbene Jesuit Anthony de Mello erzählte einmal diese Geschichte: Ein Mann klopft an die Zimmertür seines Sohnes und ruft: „Jim, wach auf!“ Jim ruft zurück: „Ich mag nicht aufstehen, Papa.“ Darauf der Vater noch lauter: „Steh auf, du musst in die Schule!“ „Ich will nicht zur Schule gehen.“ „Warum denn nicht?“, fragt der Vater. „Aus drei Gründen“, sagt Jim. „Erstens ist es so langweilig, zweitens ärgern mich die Kinder, und drittens kann ich die Schule nicht ausstehen.“

Vermutlich alle Eltern haben das so oder in einer abgewandelten Variante schon einmal von ihren Kindern gehört. Und das ist auch nicht schlimm. Manchmal läuft es einfach nicht, stimmt irgendetwas nicht, ist die Luft raus. Das gilt selbstredend nicht nur für Kinder.

In der Zeit „zwischen den Jahren“ blicken viele Menschen, nachdem sie die Weihnachtstage vielleicht mit der länger nicht zusammengekommenen Großfamilie verbracht haben, zurück und fragen bewusster als sonst: Was war gut? Was war schlecht?

Verunsicherung am Standort Deutschland

Manche durchleben Krisen, beruflich oder privat, müssen Tod, Krankheit, Trennung oder Entlassung verkraften oder haben das beklemmende Gefühl, dieser oder jener Erwartung nicht zu entsprechen. Anderen ergeht es ganz anders: Sie haben womöglich eine entscheidende Prüfung bestanden, die Frau oder den Mann fürs Leben gefunden, einen wichtigen Karriereschritt gemacht, ein Unternehmen gegründet, sprühen vor neuen Ideen, sind endlich gesund geworden, voller Tatendrang oder Vorfreude auf das kommende Jahr. Und wieder andere erfahren gegenwärtig wohl eine Mischung aus alldem.

Im übertragenen Sinne trifft das Geschriebene nicht nur auf jeden Einzelnen zu, sondern natürlich auch auf Gruppen oder ganze Länder. Deutschland wirkt gegenwärtig vergleichsweise niedergeschlagen, verunsichert und ziemlich wütend. Bekannte Unternehmen bauen spürbar Arbeitsplätze ab oder schließen Fabriken. In internationalen Standortvergleichen fällt die Bundesrepublik seit Jahren zurück. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ist ausweislich entsprechender Umfragen eher beunruhigt über die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse und schaut wenig zuversichtlich in die Zukunft.

Wähler und Gewählte müssen Prioritäten setzen

Wenig verwunderlich ist dies mit Blick auf das rauer gewordene weltpolitische Umfeld. Dass die Fliehkräfte zumal im Inneren größer geworden sind, zeigt das vorzeitige Ende der Ampelregierung ebenso wie der Zuspruch, den extreme Parteien inzwischen bekommen. Wirtschaftliche und politische Gegebenheiten, auf die Deutschland lange setzte, gelten nicht mehr. Die durchaus gemütliche und gut eingeübte Haltung etwa, erfolgreiche Produkte wie Autos Jahr für Jahr inkrementell zu verbessern und rund um die Welt einer stetig wachsenden Kundschaft zu verkaufen, kollidiert mit einer gewandelten Globalisierung.

Ähnliches gilt für die Finanzkraft der öffentlichen Hand: Gar nicht so lange zurückliegende Zeiten, in denen der deutsche Staat aufgrund stark steigender Steuereinnahmen viele Milliarden für neue Leistungen mobilisieren konnte und zugleich trotzdem eine „schwarze Null“ schrieb, sind vorbei. Heute sind Wähler und Gewählte stärker gezwungen, Prioritäten zu setzen, eine Ansage zu machen und dabei klar und deutlich zu erklären und zu akzeptieren, was infolgedessen geht – und was nicht mehr geht. Auch der Staat kann einen Euro schlicht und einfach nicht zweimal ausgeben.

Ja, das ist für alle Beteiligten zunächst unbequemer. Gleichwohl besteht kein Anlass dazu, vollkommen verzagt zu sein. Denn trotz der Probleme, mit denen Deutschland gerade konfrontiert ist, verfügt es nach wie vor über beträchtliche Ressourcen, zählt in wissenschaftlicher Exzellenz, wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und funktionierender Rechtsstaatlichkeit zu den führenden Ländern der Welt.

Deutschland hat selbst in der Hand, vielfältig erfolgreich zu bleiben, es ist nicht auf Almosen anderer angewiesen. Die Verantwortung dafür liegt aber nicht allein in Berlin, sondern in jedem Bundesland, jeder Stadt, jeder Gemeinde, jedem Unternehmen, in jeder Familie, bei jedem Einzelnen.

Im Bett liegen zu bleiben, um zur eingangs erwähnten Erzählung de Mellos zurückzukehren, ist allerdings kein hilfreiches Verhalten und keine echte Option – auch wenn es dort kuschelig und warm ist und keine ärgernden Kinder sind. Die Episode über Jim und seinen Vater endet übrigens wie folgt: „So, dann sag ich dir drei Gründe, wieso du in die Schule musst“, erwidert der Vater: „Erstens ist es deine Pflicht, zweitens bist du 45 Jahre alt – und drittens bist du der Klassenlehrer.“