Interview – Der Duft einer jung gemähten Sommerwiese
Jan C. Behmann: Wodurch entsteht Kreativität?
Christoph Peters: Ich habe nicht die geringste Ahnung. Für mich würde ich sagen, lag der Beginn einerseits in einer großen Faszination für die Natur: Ich wollte mich in ein innigeres, tiefer gehendes Verhältnis zu den Tieren setzen, die es bei uns am Niederrhein in meiner Kindheit gab, Füchse, Hasen, Rehe, Bussarde, Falken, Reiher, Eisvögel, Fische, Schmetterlinge. Die frühen Versuche sie zu malen, hatten das Ziel sie einerseits besser zu verstehen andererseits aber auch irgendwie in meinen Besitz bringen. Das war von heute aus betrachtet, für mich als Fünf-, Sechsjährigen sicherlich ein geradezu archaisch-magischer Vorgang, wie er wahrscheinlich auch den frühesten künstlerischen Darstellungen in den Höhlen von Lascaux oder prähistorischen Felszeichnungen in der Sahara zugrunde lag. Und im nächsten Schritt war da ein starkes Gefühl, das ich schon als Kind hatte, dass es mir nicht möglich ist, das, was ich empfinde, mit den normalen sprachlichen Möglichkeiten wirklich zu beschreiben und zu vermitteln. Die Sprache musste eine andere Aufladung bekommen, damit sie mich ausdrücken konnte. Also habe ich angefangen zu schreiben, es war – und ist bis heute – die Suche nach sowohl genaueren also auch schöneren Sätzen.
Waren Sie zuerst ein Lesender oder ein Schreibender?
Das hat sich ziemlich gleichzeitig entwickelt. Ich hab mir mithilfe der Sesamstraße als Fünfjähriger selbst das Lesen beigebracht und dann eigentlich auch von Anfang an geschrieben. Meistens Tiergeschichten, in denen ich freundschaftlichen Beziehungen mit Tieren unterwegs war und zum Beispiel gegen Wilderer gekämpft habe.
Erzählen Sie mir davon, wie Sie Ihr erstes Buch verfasst haben.
Mein allererstes Buch, Heinrich Grewents Arbeit und Liebe, basiert auf einer Kurzgeschichte, die ich mit siebzehn geschrieben hatte. Nachdem ich mit 27 am zweiten Versuch, das zu schreiben, was später “Stadt Land Fluss” geworden ist, komplett gescheitert war, hab ich mich wieder an Kurzgeschichten gesetzt und wollte diesen “Ur-Heinrich” überarbeiten. Aus den ersten drei Zeilen wurden dann zwölf Seiten, die Figur entwickelte ein zunehmend komplexeres Innenleben, und dann bin ich – während ich zugleich als Fluggastkontrolleur am Frankfurter Flughafen gearbeitet habe – an der Geschichte dran geblieben und hab sie über drei sehr mühsame oft verzweifelte Jahre zu Ende gebracht.
Das Debüt mit 100 Exemplaren
Wie kam Ihr erstes Typoskript zu einem Verlag?
Heinrich Grewents Arbeit und Liebe habe ich damals an alle wichtigen deutschen Verlage geschickt, bekam ein halbes Dutzend vorgedruckter Absagekärtchen und zwei wohlwollende Absagen in Briefform von Uwe Wittstock, der damals beim S. Fischer-Verlag Lektor war, und Thorsten Arendt, der für Kiepenheuer Leipzig arbeitete. Das Buch ist dann in einer Auflage von hundert Exemplaren in einem kleinen Mainzer Verlag erschienen, wobei ich die Frau, die das Manuskript abgetippt hat, damit es digital vorlag, noch selbst bezahlt habe. Das nächste Manuskript “Stadt Land Fluss” hat dann Jochen Schimmang, mit dem ich zusammen Stipendiat im Künstlerdorf Schöppingen war, an die ganz frisch gegründete Agentur Petra Eggers weitergegeben. Über die ist es dann zur Frankfurter Verlagsanstalt gelangt, das war 1998.
Ist Erfolg Glückssache?
Da müsste man erst mal Erfolg definieren. Ist es “Erfolg” wenn man in der kleinen Gruppe der Literaturkenner und -freunde als großartiger Autor gefeiert wird, aber trotzdem nur 1.500 Exemplare verkauft, weil das, was man da macht, einfach nicht massenkompatibel ist? Oder ist es die Zahl der verkauften Exemplare? Ab wann ist ein literarischer Titel unter dieser Rücksicht ein “Erfolg”? Ab 15.000 oder ab 100.000? Bestimmte Arten großartiger Literatur werden sich nie in hohen Stückzahlen verkaufen. Aber vielleicht liest man sie dafür dann noch in hundert Jahren, wohingegen die meisten Bestseller längst vergessen sind. Es gibt Qualitätskriterien, die einen Text herausragend machen, wenn man denen gerecht wird, ist es ja eigentlich ein Erfolg. Dabei geht es einerseits um sprachliche Kraft und andererseits um eine bestimmte Vielschichtigkeit oder Unerschöpflichkeit, die notwendig ist, damit ein Text in jeder Lesergeneration andere Aspekte eröffnet und sich eben nicht in der Bestätigung – oder auch Ablehnung – des Zeitgeistes erschöpft. Der Ersterfolg eines Buches hängt aber natürlich immer auch von zahlreichen Zufällen ab, die wenig oder nichts mit dieser Art Qualität zu tun haben müssen: Die richtigen Leute müssen zur richtigen Zeit die richtigen Dinge zu einem frisch erschienen Titel schreiben oder sagen, der Text muss irgendwie ein bestimmtes, in der Gesellschaft genau jetzt vorhandenes Gefühl auf den Punkt bringen oder ein aktuelles Themenbedürfnis befriedigen… Niemand weiß genau, wann es funktioniert und warum.
Wann und wo entwickeln Sie wie Ihre Ideen?
Immer und überall. Früher kamen Romane meist nachts zwischen zwei und vier, setzten sich als Bild fest und blubberten dann Jahre bis Jahrzehnte vor sich hin, ehe ich angefangen habe sie zu schreiben. Einige von diesen Büchern, sind immer noch in meinem Kopf und warten auf ihre Niederschrift. Inzwischen kommen manchmal aber auch Geschichten schneller zum Zug. Grundsätzlich besinne ich immer fünf bis sechs größere Texte, an denen ich aber nicht schreibe. Ich denke über sie nach, visualisiere Szenen, sammle Material, lerne die Figuren immer besser kennen…
Haben Sie ein Notizbuch?
Ich habe mehrere Notizbücher, mache aber so gut wie nie Notizen und wenn, vergesse ich wieder, dass ich sie gemacht habe, und greife dementsprechend später nicht auf sie zurück.
„Ich korrigiere immer endlos“
Was bedeutet die Digitalität für Ihr Leben?
Grundsätzlich habe ich keine besonderen Sympathien für die digitale Welt. Aber ich empfinde den Computer als das perfekte Werkzeug um Romane zu schreiben. Heinrich Grewents Arbeit und Liebe habe ich noch komplett per Hand mit einem Tankfüller geschrieben. Da ich immer endlos korrigiere, war der Stapel der immer wieder abgeschrieben Vorschriften am Ende gut siebzig Zentimeter hoch, während das endgültige Manuskript nur anderthalb Zentimeter, das gedruckte Buch nur sieben Millimeter maß.
Dank des Computers kann ich japanische Keramiken und Rollbilder in Japan kaufen, die ich sonst niemals fände. Ansonsten machen mir diese Apparate immer noch großes Unbehagen: Für mich stehen sie für die Ursupation der Weltherrschaft durch die Nerds, über die wir uns als Schüler lustig gemacht haben. Damals saßen sie vor endlosen Zeichenkolonnen oder schickten mit riesigen Joysticks grüne Punke über einen Bildschirm und stellten sich vor, es wäre Tennis. Das hat mich damals nicht interessiert und diese ganzen sogenannten virtuellen Realitäten interessieren mich immer noch nicht. Ich mag reale Begegnungen, körperliche Erfahrungen, sinnliche Wahrnehmung und Dinge, die von Hand gefertigt sind.
Lesen Sie auch digital?
Nur Nachrichten oder Sachtexte, die sonst nicht verfügbar sind, allerdings nicht mit großem Vergnügen. Tatsächlich habe ich vor zwei Monaten, als ich in Pakistan war, drei Romane von Mohsin Hamid auf meinem uralten Kindle, den meine Frau vor zehn Jahren schon ausrangiert hat, gelesen, weil sie anders nicht zu bekommen waren. Das waren die ersten Bücher, die ich überhaupt auf einem Gerät gelesen habe. Aber zurück in Deutschland habe ich zwei davon dann noch mal gedruckt gekauft, weil ich sie so großartig fand.
[Anm. d. Interviewers: Bei den Romanen von Mohsin Hamid handelt es sich um Der Fundamentalist, der keiner sein wollte, Exit West, So wirst du stinkreich im boomenden Asien]
„Wenn ich reich und berühmt bin, werde ich wieder Briefe schreiben“
Was bedeutet Ihr Smartphone für Sie?
Ein sehr praktisches und zugleich extrem lästiges Terrorinstrument, das mir als Nachrichtenjunkie – ich gehe auch vier bis fünf Mal am Tag zum Briefkasten – viel zu viel Zeit stiehlt. Aber natürlich gibt es mir die Möglichkeit, mich z.B. in dem wunderbaren Land Pakistan ziemlich gut zu orientieren, schnell mal eine Motorriksha zu buchen… Aber eigentlich hasse ich es und denke, eines schönen Tages, wenn ich mal reich und berühmt bin, werde ich wieder Briefe schreiben und mir ein altes Bakelit-Telefon mit Wählscheibe bei Ebay kaufen, was dann meine endgülig letzte Handlung in der digitalen Welt sein wird.
Sie haben eine besondere Konstellation für Ihr Schreibtischdasein: Sie sitzen Seite an Seite mit Ihrer Frau, die ebenfalls Schriftstellerin ist. Wie geht das?
Das ist sehr unkompliziert: Meine Frau sitzt vor dem linken Fenster und ich vor dem rechten. Rechts und links der Schreibtischfläche und in unserem Rückraum stehen Bücher bis unter die Decke. Ich frage relativ regelmäßig: “Willst du noch Tee”? Dann sagt sie meistens: “Ja” manchmal auch, “Nein, ist mir jetzt zu spät.” Das ist eigentlich schon alles.
Gibt es in Ihrer Beziehung kompetitive Elemente?
Nein, nicht wirklich. Wenn sie Erfolg hat, nimmt das mir etwas von meinem Druck und umgekehrt. Wir wirtschaften in den selben Topf und alles, was reinkommt, ist willkommen, da wir außer dem, was wir erschreiben, keine Einkünfte und auch kein Vermögen im Hintergrund haben.
Welche Schreibroutinen haben Sie?
Meine Frau und ich machen meistens morgens zusammen einen längeren Spaziergang mit dem Hund, dann frühstücken wir, anschließend setzen wir uns an die Schreibtische. Ich unterbreche die Arbeit gegen eins, kaufe vielleicht noch schnell etwas ein oder fange gleich an zu kochen. Gegen zwei gibt es Mittagessen. Danach gehe ich wieder an die Arbeit oder begleite meine Frau auf der Nachmittagsrunde mit dem Hund. Grundsätzlich endet mein Arbeitstag an etwa sechs Tagen pro Woche, wenn ich nach mehreren Korrekturdurchläufen mit dem Text eine Seite weiter bin als am Vortag. Da bin ich ziemlich pedantisch. Wenn ich meine Seite heute nicht schaffe, habe ich Angst, dass ich sie nie wieder schaffen werden.
Wo ist Heimat für Sie?
Am Niederrhein, in dem Dorf Hönnepel, das zur Stadt Kalkar im Kreis Kleve gehört und direkt am Rhein liegt.
Vielleicht bleibt er mal in Japan
Und was bedeutet diese Heimat für Sie?
Es gibt keinen Ort auf der Welt, der mir auf ähnliche Weise innerlich vertraut ist, so dass ein Gefühl der Ruhe und Entspannung einsetzt, sobald ich dort bin. Zu der Vertrautheit mit Landschaft, Wetter, Sprache, Mentalität kommt eine Ebene, die mit der Geschichte dieser Region zu tun hat. Sie liegt auf der linken, der römischen und später fränkischen Seite des Rheins. Einerseits haben wir dort von der überragenden römischen Zivilisation profitiert, andererseits nahm aber auch der zweite große anti-römische Germanenaufstand – Claudius Civilis und seine Bataver – hier seinen Ausgang; das Dorf, aus dem ich stamme, war im neunten Jahrhundert mutmaßlich Beobachtungsposten und vielleicht Brückenkopf der Franken während der Sachsenkriege. Dann kommt die großartige spätgotische Schnitzkunst, deren Hauptvertreter teilweise aus dem Gebiet der heutigen Niederlande stammten, wie auch das Platt im Kreis Kleve ein Dialekt des Niederländischen und nicht des Deutschen ist, so dass sich das deutsche Kaiserreich nach seiner Gründung 1871 bemüßigt fühlte, diese Sprache für jede Form des offiziellen Gebrauchs zu verbieten, Berlin wollte verhindern, dass sich bei uns eine “Separat-Identität” ausbildete… Dementsprechend gab es immer starke anti-preußische Ressentiments am Niederrhein… Das ließe sich jetzt natürlich alles noch unendlich weiterspinnen.
Ihr Werke spielen zum einen in Ihrer eigentlichen Heimat, dann in Ostasien, in Nordafrika oder eben in Berlin, wo Sie leben. Wo lebt Ihre Seele am liebsten?
Wenn ich jetzt ganz frei und für mich allein entscheiden könnte, wo ich wohne, würde ich mir entweder eine nette, halbsanierte Melkerkate im Kreis Kleve suchen oder eine Wohnung in Kairo nehmen oder eine in Lahore. Und wenn ich richtig viel Geld hätte, würde ich mir noch ein kleines Häuschen in der Bretagne kaufen. Aber vorher würde ich auch gern ein Jahr oder zwei in Japan leben und – wenn es sich ergäbe – vielleicht sogar dort bleiben.
Sind Sie immer derselbe, egal wo man Sie trifft?
Ich selbst habe das Gefühl, dass ich in jeder Begegnung jemand anderer bin. Grundsätzlich versuche ich, wenn ich in anderen Ländern bin, dort so wenig wie möglich zu stören, mich also im Rahmen meiner Möglichkeiten, den örtlichen Gepflogenheiten anzupassen. Als Schriftsteller bin ich es ja gewohnt, für das Schreiben eines Buches – ähnlich wie ein Schauspieler – Identitäten anzunehmen, die zunächst nicht meine eigenen sind. Das hat auf die mittlere Frist allerdings den Nebeneffekt, dass ich ernste Zweifel habe, ob es so etwas wie “meine Identität” überhaupt noch gibt. Prechts Titelfrage “Wer bin ich und wenn ja wie viele” bringt das ziemlich genau auf den Punkt.
Was verändert sich, wenn Sie in Nordafrika sind?
“Nordafrika” trifft es nicht. In Ägypten hatte ich schon, als ich 1993 zum allerersten Mal dort aus einem Flugzeug gestiegen bin – trotz damals offizieller Terrorwarnung -, das Gefühl: Hier gehöre ich hin, hier kann mir nichts passieren. Wohingegen ich mir, als ich 1984 erstmals in Marokko war, vollkommen fremd vorkam. Und auch wenn ich in den letzten Jahren einige Male länger in Marokko unterwegs war und mich dort sehr willkommen gefühlt habe, hat sich nie dieses fast schon heimatartige Gefühl eingestellt, wie ich es in Ägypten habe. Dort bin ich ähnlich entspannt wie am Niederrhein.
„Ich argumentiere gegen meine eigene Lebenspraxis“
In Ihrem Essay Tage in Tokyo nehmen Sie uns mit nach Japan. Welche Riten würden Sie gerne aus Japan hier in Deutschland erleben?
Ich bin ehrlich gesagt kein großer Freund des globalisierten Ritualtransfers. Natürlich kann ich, wenn ich mich ernsthaft auf kulturelle oder spirituelle Wege aus anderen Kulturräumen einlasse, da zu einer guten und tiefen Praxis kommen. Aber das ist doch mit einiger innerer und äußerer Mühe verbunden. Eigentlich finde ich es schöner, wenn ich das, was anderswo praktiziert wird, dort erfahre und eventuell lerne. Ich sage das jetzt so, obwohl ich selbst seit inzwischen sechzehn Jahren sufische Spiritualität und Meditation von einem türkischen Sufimeister lerne und seit fünfzehn Jahren das, was man landläufig “japanische Teezeremonie” nennt, übe. Trotzdem denke ich, dass es grundsätzlich sinnvoll ist, sich zunächst einmal so tief wie irgend möglich auf die eigenen geistigen Traditionen einzulassen, da sie einen unbewusst ohnehin geprägt haben, und die Selbstverständlichkeit dieser Ur-Prägung muss ich mir bei allem anderen erst einmal mühsam erarbeiten, ehe ich eine ähnliche Qualität erreiche… Aber wie gesagt: Ich argumentiere hier gegen meine eigene Lebenspraxis.
Was bedeutet Wolfgang Koeppen für Sie?
Zwischen zwanzig und dreißig war Koeppen für mich ein ganz wichtiger Autor, eigentlich der deutschsprachige Türöffner für die Schnitt- und Montagetechniken der modernen Literatur. Die ungeheure Wucht seiner Sprache, die enorme Rhytmisierung, das war ein Sound, den ich bis dahin noch nicht gelesen hatte. Danach gab es fast zwei Jahrzehnte, in denen er mir, wenn ich versucht habe, seine Bücher erneut zu lesen, zu prätenziös, zu manieriert erschienen ist. Das hat sich geändert, als ich 2018, als ich den Koeppen-Preis bekam, noch einmal alle wichtigen Bücher von ihm gelesen habe: Da fand ich ihn wieder ungeheuer spannend und wild und gerade in seiner Rücksichtslosigkeit gegenüber den bürgerlichen Wohlanständigkeiten seiner Zeit, die denen unserer Zeit teilweise inzwischen wieder erschreckend ähneln, unbedingt lesenswert.
Im Gegensatz zu Koeppen, legen Sie regelmäßig neue Werke vor. Benötigen Sie Abgabetermine als Motivation?
Nein. Ich arbeite immer, weil ich sonst zerbrösele und für die Menschen in meinem Umfeld unzumutbar werde. Für mich gilt: Wie soll ich wissen, was ich denke, wenn ich nicht lese, was ich schreibe… Das heißt: Was ich heute schreibe, nicht das, was ich irgendwann mal geschrieben habe. Das, was einmal fertig ist, lese ich normalerweise nie wieder. Durch diese Eine-Seite-pro-Tag-Vorgabe komme ich bei etwa 300 Arbeitstagen pro Jahr relativ gut voran.
Sie haben mit Krähen im Park den zweiten Teil Ihrer in Entstehung begriffenen Trilogie des gegenwärtigen Scheiterns vorgelegt. Wessen Scheitern meinen Sie?
Die meisten Figuren in dem Roman scheitern: An sich selbst, an den Umständen, an ihren selbstgesetzten Zielen, an dem, was von ihnen erwartet wird. Das klingt vielleicht arg pessimistisch, aber das Scheitern ist ja eine Grundkonstante menschlichen Lebens. Wir scheitern doch mehr oder weniger täglich, mal im Großen mal im Kleinen, aber wir dürfen trotzdem nicht aufgeben, sondern müssen immer wieder von vorn anfangen oder nach kurzem Innehalten weitermachen, wo wir zuletzt aus der Kurve geflogen sind.
In Der Sandkasten skizzieren Sie ein kühles Portrait der Berliner Medien und des Politzirkus´. Ist die Welt der Politik zum Scheitern verurteilt?
Ich scheue mich irgendeine Aussage über “die Welt der Politik” zu machen. Sie besteht ja auch aus Individuen, die sich zwar in bestimmten Strukturen bewegen, aber diese Strukturen sind in einem ständigen Wechselspiel, zwischen guten und schlechten Absichten, Sachzwängen, Kompromissfindungen, moralischen Ansprüchen und praktischen Umsetzbarkeiten. Wie in allen anderen Lebensbereichen gelingt in der Politik dies und das diesem und jenem mal besser und mal schlechter. Manches davon ist persönliches Verdienst oder Verschulden, manches verdankt sich glücklichen Zeitumständen oder fatalen Zu- beziehungsweise Unfällen. Und dann kommt das Urteil der Geschichte, das, wie wir gerade in vielen Debatten z. B. über den Kolonialismus sehen, selbst wenn es schon in Stein gemeißelt ist, nicht von Dauer sein muss.
„Manche Menschen haben es immer schwer, weil sie es mit sich selber schwer haben“
In Krähen im Park geht es um ein Panoptikum verschiedener Seelen in einer Großstadt. Bildet eine Großstadt immer die Gefahr, dass das Individuum in ihr versinkt?
Alle Lebensräume haben ihre Gefahren. Ob aus diesen Gefahren Untergänge oder Großtaten erwachsen, hängt vom Einzelnen und den jeweiligen Umständen ab, wobei nicht alle Umstände für alle gleich gut sein müssen, im Gegenteil. Es gibt Leute, die brauchen vielleicht die Stille einer Höhle in der Wüste, um eine erfülltes Leben zu führen, und für andere wäre dieser Ort die Hölle, in der sie irre würden. Aber wenn man sie ins Gedränge eines orientalischen Basars schickt, laufen sie zur Bestform auf, Tag für Tag aufs Neue. Es gibt Leute mit einem insgesamt glücklicheren Naturell, die sich nahezu überall zurecht finden, und Leute, für die diese Welt grundsätzlich ein Trauerspiel darstellt. Die haben es immer schwer, ganz gleich, wo sie sich befinden, weil sie es eben mit sich selber schwer haben.
Welche Erkenntnisse haben Sie selbst aus dem Schreiben dieser Bücher für sich gewonnen?
Das es gut ist, wenn ich meine Bücher nicht so genau plane, sondern darauf vertraue, dass die Figuren – wenn ich ihnen viel Freiraum lasse – ihre Geschichten selbst viel besser kennen als ich.
Können Sie schon etwas zum Abschluss der Trilogie verraten?
Der Roman heißt Innerstädtischer Tod und spielt wiederum in Berlin, zwischen Kunstszene und Politik. Es ist eine Art “Familienaufstellung”. Im Zentrum stehen ein junger, sehr sensibler Künstler, der seine erste Ausstellung in einer bedeutenden Berliner Galerie haben soll, und sein Onkel, der so etwas wie der alte Vordenker und intellektuelle Kopf der Neuen Rechten ist. Der wiederum hat einen Sohn, der zum Katholizismus konvertiert und Priester geworden ist. Er erscheint am 11. September diesen Jahres.
Sie sind nicht nur Schriftsteller, sondern kennen sich auch in sehr speziellen Interessensgebieten aus. Was bedeuten Teeschalen für Sie?
Japanische Teeschalen, Chawan, gehören für mich zum Schönsten und Rätselhaftesten, was je von Menschenhand gemacht wurde. Ich bin jeden Tag mindestens zwei, drei Stunden mit ihnen beschäftigt, schaue hunderte Exemplare auf japanischen Online-Flomarktseiten an, blättere Bücher mit Abbildungen durch, nehme die Schalen aus meiner Sammlung in die Hand, betrachte und benutze sie, und noch immer verstehe ich sie nicht wirklich. Jedes Mal, wenn ein neues Stück ins Haus kommt, habe ich das Gefühl, eine einmalige ästhetische Erfahrung zu machen. Es gibt nichts Vergleichbares, weil Chawan Kunstwerke im eigentlichen Sinne sind, Kunstwerke, die man in einer Art Performance, der “Teezeremonie” benutzt, und die so gearbeitet sind, dass sie ebenso auf der visuellen, wie auf der haptischen und der funktionalen Ebene einen jeweils singulären Ausdruck haben, den man nur in der Benutzung erfährt und der sich mit jeder Benutzung neu erschließt.
Teezeremonie: Eine Schiebetür öffnen, als wenn es um alles ginge
Sie zeichnen diese Teeschalen auch mit größter Anmut. Ist dies ein Ausgleich für Sie?
Ausgleich wäre das falsche Wort. Es gibt wenige Dinge, die ich in meinem Leben künstlerisch gemacht habe, die eine so hohe Konzentration verlangen wie dieses Teeschalen-Zeichnen. Da darf die Aufmerksamkeit keine Sekunde nachlassen. Oft halte ich beim Zeichnen den Atem an… Und nach fünf, sechs Stunden bin ich völlig erschöpft.
Was bedeutet Sport für Ihr Leben?
Mehr oder weniger nichts. Ich mache keine Sport und ich gucke auch keinen Sport. Vielleicht demnächst mal wieder ein bisschen Fußball… Kann aber auch sein, dass ich doch keine Lust habe, wenn es soweit ist.
Die Ruhe, die Sie bei Teezeremonien erleben, ist das die Ruhe, die der Gesellschaft fehlt, die Sie in Ihrer Trilogie beschreiben?
Für mich ist das Üben des Teewegs tatsächlich eine herausragend wichtige und schöne Beschäftigung. Es gibt wenige Dinge, aus denen ich so zufrieden und ruhig herauskomme, wie aus einer Teezubereitung auf der Tatami-Matte im Kimono mit diesen wunderbaren Gegenständen, die man eben benötigt, um einen Matcha gut zuzubereiten. Aber meine Frau zum Beispiel hat vor Jahren regelmäßig die Krise gekriegt, wenn ich mir diese japanischen Lehrvideos angeschaut habe, wo jemand unendlich langsam einfach nur eine Schiebetür öffnet, als ginge es um alles. Für sie wäre das nichts. Mir hilft es, aber es ist sicher nicht für alle das Richtige, so wie manche eben in der Wüste leben müssen und andere in Berlin-Wedding oder im Bayrischen Wald, um zufrieden zu sein.
Wenn Ihr Leben eine Teesorte wäre, welche wäre es?
Wenn es gut liefe, ein Fukamushi Sencha aus Miyazaki, Kyushu, tief gedämpft, mit einer feinen Balance aus bitter und süß, schwer und leicht und dem Duft einer frisch gemähten Sommerwiese.
Christoph Peters wurde 1966 in Kalkar geboren. Er ist Autor zahlreicher Romane und Erzählbände und wurde für seine Bücher vielfach ausgezeichnet, so z.B. mit dem Wolfgang-Koeppen-Preis (2018). Christoph Peters lebt mit seiner Frau Veronika Peters, die ebenfalls als Schriftstellerin arbeitet, in Berlin und ist Vater einer Tochter. Zuletzt erschienen von ihm bei Luchterhand „Der Sandkasten“ (2022) und Krähen im Park (2023). Am 11. September 2024 erscheint der dritte Band seiner Trilogie des gegenwärtigen Scheiterns mit dem Titel Innerstädtischer Tod, ebenso im Luchterhand Verlag.
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