Großbritannien schaltet sein letztes Kohlekraftwerk ab

Ohne die Kohle hätte es keine technische Revolution gegeben. Und ohne diese keinen Kapitalismus. Ist der heutige Montag in Großbritannien nun mit einer Revolution gleichzusetzen? Eine Spurensuche


Als Strom noch richtig dreckig war: Ein britischer Kohlekumpel 1966 nach der Schicht

I C Rapoport/ Getty


Dieser Artikel ist für Sie kostenlos.
Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir
freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine
vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt
bei Ihnen!

Share Icon


Jetzt kostenlos testen

Ausgerechnet Großbritannien! Hier, im Mutterland des Kapitalismus, geht am heutigen Montag das letzte Kohlekraftwerk vom Netz. Dabei ist der Aufstieg des Kapitalismus ohne die Kohle ganz undenkbar! Mehr als 140.000 mit Kohle beladene Güterzüge sind bislang ins Kraftwerk in Ratcliffe-on-Soar gerollt. Heute wird der letzte entladen. Ist das das Ende des Kapitalismus?

Der Reihe nach: Ohne Kohle kann eine Dampfmaschine nicht betrieben werden, die Wärme­energie in Bewegungs­energie umwandelt. Ohne die Dampfmaschine ist die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert unvorstellbar. Erst durch diese Form von Kohleverbrennung wurden neue Produktions- und Fertigungstechniken möglich, Webmaschinen etwa oder Lokomotiven. Allerdings waren für diese Bereitstellung von Energie eben immer „Maschinen vor Ort“ notwendig. Um den nächsten Schub kapitalistischer Produktionsprozesse einzuleiten, musste eine Energiebereitstellung gefunden werden, die unabhängig vom Ort funktionierte.

So entstand das Kohlekraftwerk: Im Januar 1882 nahm der amerikanische Erfinder und Unternehmer Thomas Edison das weltweit erste Kohlekraftwerk am Holborn Viaduct in London in Betrieb. Zu dieser Zeit wurde in Wien noch mehr Holz als Kohle verbrannt. Aus der Dampfmaschine wird um die Jahrhundertwende die Dampfturbine, deren Wirkungsgrad deutlich größer ist: Jetzt lohnte es, Energie über Leitungen zu transportieren, das Stromnetz entsteht. In seiner Hochzeit werden mehr als 80 Prozent des Stromes in Großbritannien aus Kohle gewonnen.

Das erste Klimaschutzgesetz der Welt

Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts endet der Siegeszug der Kohle. Erdöl besitzt eine höhere Energiedichte und ist billiger. Die konservative Regierung Margaret Thatchers privatisierte in den 1980er-Jahren den bis dahin staatlichen Bergbau, viele Zechen werden unrentabel und müssen schließen. Dagegen streikten 1984 mehr als 100.000 Kohlekumpel ein Jahr lang, allerdings erfolglos. Die letzte britische Kohlenzeche wurde im Jahr 2015 stillgelegt.

Ein Grund dafür ist sicherlich der Klimaschutz: Großbritannien beschloss 2008 als erstes Land der Welt ein Klimaschutzgesetz, den Climate Change Act 2008. Um diesen umzusetzen, verabschiedete die britische Regierung bereits 2013 eine Kohlendioxid-Steuer: Kraftwerke, die klimaschädliches Kohlendioxid in die Atmosphäre blasen, müssen dafür zahlen. Weil Kohlekraftwerke sehr viel davon produzieren, wurde ihr Strom zu teuer, die Energiekonzerne legten eines nach dem anderen still. Waren 2010 noch 21 Kohlekraftwerke am Netz, so sank die Zahl vor fünf Jahren auf sechs. Heute nun gehen die acht gigantischen Kühltürme des Kraftwerks Ratcliffe-on-Soar aus.

Es ist bezeichnend, dass es ein deutscher Konzern ist, der seinen Kohlemeiler bis zum Schluss am Netz gelassen hat: Uniper ist 2016 aus Eon hervorgegangen und 2022 in wirtschaftliche Schieflage geraten. Die Bundesregierung musste mit 15 Milliarden Euro Steuergeld einspringen, seitdem befindet sich Uniper im Staatsbesitz. Trotzdem betreibt Uniper immer noch Kohlekraftwerke in Deutschland, beispielsweise das Kraftwerk Staudinger und Datteln. Aber Deutschland will ja auch erst 2038 aus der Kohle aussteigen.

Bis 2030 komplett emissionsfrei

Ist das Ende der Kohlekraft in Großbritannien also mit einer Revolution gleichzusetzen? Leider nein. Denn die Briten haben es jahrelang versäumt, erneuerbare Energien auszubauen. Sonne und Wind liefern lediglich 43 Prozent des Stromes, in Deutschland waren es zum Vergleich im ersten Halbjahr mehr als 60 Prozent. 32 Prozent der Elektrizität Großbritanniens werden aus fossilem Gas hergestellt, Atomstrom macht zwölf Prozent aus, der Rest wird importiert.

Immerhin hat die neue Labour-Regierung als Priorität ausgegeben, „Supermacht in sauberer Energie“ zu werden. Demnach soll die Stromerzeugung bis 2030 komplett dekarbonisiert werden – fünf Jahre eher, als die konservative Vorgängerregierung angepeilt hatte. Um das zu erreichen, geht Großbritannien einen ganz untypischen Schritt im Kapitalismus: Weil es der Markt eben nicht allein richtet, wurde GB Energy gegründet, ein neuer Staatskonzern, der saubere Energieprojekte voranbringen soll.

Und dann plant Großbritannien noch etwas ganz Untypisches im Kapitalismus: den Bau von Kraftwerken, die nie wirtschaftlich arbeiten werden. Zum Beispiel das Atomkraftwerk Hinkley Point C: Im März 2017 begannen in Südwest-England die Bauarbeiten, die Kosten haben sich von 21 Milliarden auf rund 38 Milliarden fast verdoppelt. Damit wird das Kraftwerk das teuerste der Welt – und nie Gewinn abwerfen. Leider ist auch das keine Revolution – sondern einfach nur dumm.