Georgien | Georgien: Die Regierungspartei will keinen Krieg mit Russland riskieren
Die umstrittene Parlamentswahl in Georgien sorgte für eine innere Zerreißprobe. Erst recht, als die Regierung Beitrittsverhandlungen mit der EU absagte. Was Menschen in einem Grenzort zur abtrünnigen Republik Abchasien dazu sagen
Demonstrantin in Tiflis gegen die antiwestliche Politik der Regierung
Foto: Karen Minasyan/AFP/Getty Images
Seit dem 28. November, als die Regierung des Georgischen Traums (GT) EU-Beitrittsgespräche auf Eis legte, beschäftigt mich die Frage, ob der antiwestliche Kurs des „Traums“ nicht doch eine gewisse demokratische Legitimität beanspruchen kann. Immerhin erhielt die Partei, selbst wenn man mögliche Wahlmanipulationen abzieht, beim Parlamentsvotum am 26. Oktober unbestritten über 40 Prozent. Auf ihrer Habenseite stehen ungewöhnlich hohe Wachstumsraten, dazu sichtbare Erfolge der ökonomischen Öffnung nach China, Russland und Asien. Verfangen hat offenbar auch, dass der GT davor warnt, die prowestliche Opposition wolle Georgien „gemeinsam mit einer globalen Partei des Krieges“ in einen militärischen Konflikt mit Russland treiben.
Das Kriegsthema erhielt Ende Januar neue Brisanz, als der slowakische Premier Robert Fico einer „ausländischen Gruppe von Ex*-perten“ nach einem Geheimdienstbericht vorwarf, mit der liberalen pro-europäischen Opposition seines Landes einen gewaltsamen Majdan-Umsturz zu planen. Kurz darauf zeigte Fico auf ein Gesicht: Mamuka Mamulaschwili, Führer der „Georgischen Legion in der Ukraine“, die „niemals russische Gefangene macht“.
Palmen, Mandarinen und eine Europafahne an der Grenze zu Abchasien
Nach den Reisen der letzten Jahre begreife ich Georgien immer weniger. Das Land wird im Unterschied zu Armenien und Aserbaidschan von einer ethnischen und religiösen Heterogenität durchzogen, an der man nur irre werden kann. Dazu kommt ein mentaler Partikularismus, indem jeder Georgier seine eigene Außenpolitik verfolgt, die er für geboten hält.
Im Januar reiste ich in das ethno-linguistisch abweichende, aber hypergeorgische Mingrelien – das antike Kolchis. Der Georgische Traum schrieb sich in der Großmunizipalität Sugdidi 51 Prozent zu. Ich hoffte, fündig zu werden, wo sie 1992 und 2008 jeweils Kriege erfahren haben – in Grenzorten zur abtrünnigen Republik Abchasien.
„Weder Amerika noch Russland. Wer fürchtet sich nicht vor Krieg?“
Die kolchische Küstenebene empfing mit Palmen und Mandarinen. Vom Tee-Anbau in Ruchi waren nur dürre Stängel übrig, dafür gab es freilaufende Fleckschweine und fressbares Wintergras. Als zukunftshelle Wandmalerei am Kinder-Sozialzentrum war die Europafahne gemalt. Ich ging bis zum letzten Laden vor dem „Grenzübergang“, an dem Reisende phasenweise nach Abchasien gelangten. Das Portfolio des 63-jährigen Geschäftsinhabers war breit: Cafétische, Reifenhandel, Werkstatt, eine Kuh mit angeblich „neun Liter Milch am Tag“. 1992 war der Mann nach Russland geflohen, 2008, während des kurzen Sommerkrieges, hatte er „260 russische Panzer“ durchfahren sehen. Er stimmte der Linie des Georgischen Traums zu: „Weder Amerika noch Russland. Wer fürchtet sich nicht vor Krieg?“
Ich stieg danach im Badeort Anaklia ab, 2004 bis 2013 vom damaligen Präsidenten Micheil Saakaschwili aufgemotzt, inzwischen verfallen. Als ich allein im Dunkeln über die Strandpromenade spazierte, fielen wohlgenährte Straßenköter grasende Kühe an. Ältere Mingrelierinnen führten die Geschäfte, eine teilweise in Moskau lebende Unternehmerin hatte ein Hotel („In Moskau lebt man sehr gut!“), eine andere einen Laden, der einst als Kino diente. Die 84-jährige Tante-Emma-Händlerin wollte schon 1959 gerufen haben: „Wir wollen nach Europa!“ Krieg jedoch hielt sie für abwegig: „Was sollen wir gegen Russland ausrichten? Unsere Soldaten würden wieder wegrennen.“
Bei der Abenddemo gegen die EU-Absage in Sugdidi
Anderntags ging ich über die angeblich „längste Fußgängerbrücke Europas“ Abchasien entgegen. Da in „Pratap‘s Signature Beachside Resort & Spa“ 85 Mittagsportionen gekocht wurden, bekam ich ein Essen ab. Ja, die Köchinnen empfanden Kriegsangst. Eine war nach drei Jahren in Paris heimgekehrt, dank des indischen Investors fand sie zuhause wieder ein Auskommen. In Sugdidi selbst gab es ein ähnlich widersprüchliches Bild: Eine bei Moskau aufgewachsene Schawarma-Mingrelierin schwang russische Reden („es gibt kein unverschämteres Volk als die Ukrainer“), während die aus Abchasien vertriebene Kollegin die Russen „Okkupanten“ nannte. Einig waren sie sich in der Behauptung, ukrainische Flüchtlinge würden siebenmal so viel Stütze kriegen wie georgische.
Vor dem lokalen Parlament von Sugdidi fand die tägliche Abenddemo gegen die EU-Absage statt. Wegen kalten Dauerregens war das Verhältnis Polizei:Demonstranten 30:30. Wobei die 30 – auch das ist Georgien – drei Stunden ausharrten. Man hörte ein nervtötendes Martinshorn und dumpfe Trommeln, ein junges Paar räumte unumwunden ein, dass die auf Kriegsangst zielende Kampagne des „Traums“ verfangen habe. Die Frau sagte: „Obwohl das objektiv Bullshit ist“, ihr Mann schwieg.
Später in der „Skybar“ unterhielten sich fünf Mädchen in der Landessprache, aber sobald die anderen draußen rauchten, steckten zwei auf Russisch die Köpfe zusammen und ließen bei einem italienischen Song die Hände tanzen. Eine bekam einen Anruf und schrie auf Russisch ins Telefon: „Was willst du?“ Das Handy auf den Tisch schmeißend, rief sie: „Arrivderci!“
Regelmäßig berichtet Martin Leidenfrost über nahe und fernab gelegene Orte in Europa.