Friedrich Ani nimmt Abschied: „Ich bin es ihm schuldig, ihn umziehen zu lassen“

Seit jeher erzählen die Kriminalromane Friedrich Anis von den Missständen in der deutschen Gesellschaft, sind nebenbei soziologische Studien. Es geht um Rechtsradikalismus (M, 2013), um Femizide (Letzte Ehre, 2021), Kindesmissbrauch (Die unterirdische Sonne, 2014), um die Opfer der Gentrifizierung und, immer wieder, um die allgemeine wachsende Verrohung, frappierende Gleichgültigkeit.

Letzteres ist auch das Grundthema von Lichtjahre im Dunkel, dem aktuellen Roman des Münchner Schriftstellers, in dem er unter anderem von einer kaputten Ehe, einem spurlos verschwundenen Mann und dem sehr komplizierten Verhältnis zweier Brüder erzählt, die sich erst kennenlernen, als es schon fast zu spät ist. Wie immer bei Ani spielt der Kriminalfall fast nur eine Nebenrolle; Ani erkundet vielmehr sehr unspektakulär die Wunden und Narben, die Verbrechen hinterlassen, die verschwendete und damit verschwundene Zeit in die Leben ganz normaler Menschen schlägt.

Lichtjahre im Dunkel ist der 22. Fall für den ehemaligen Polizisten und heutigen Privatdetektiv Tabor Süden, einen Ermittler von ziemlich trauriger Gestalt, der seine Vermisstenfälle, die er „Vermissungen“ nennt, löst, indem er geduldig ist, indem er zuhört, indem er wenig sagt und viel lernt (und manchmal überreichlich trinkt). Eine fiktive Legende ist dieser Süden für seine zahlreichen Fans, und jetzt heißt es Abschied nehmen von ihm – einen weiteren Kriminalfall zumindest wird es mit ihm nicht geben.

Mit fast 450 Seiten gerät dieser Abschied stilecht, allein steht der Ermittler in Gesellschaft in einem Biergarten: „Und als ich aufbrach (leidlich bebiert) und einen Blick zum Himmel warf (kein Mond weit und breit), ließ der Wind sich von den fleckigen, vom Sommer verachteten Blättern der Kastanie fallen, wischte meinen Atem vom Tisch und säuberte die runde Holzfläche für das verträumte junge Paar, das schon darauf wartete, meinen Platz einzunehmen.“ Was für ein verwehtes Ende nach fast einem Vierteljahrhundert, geschrieben in diesem Ani-Sound.

Unser Autor hat sich mit Friedrich Ani am Vormittag nach einer Lesung in Hamburg getroffen, aber nicht in einem hanseatischen Pendant zum Blauen Eck, der Kneipe, in der sich ein Großteil der Handlung seines neuen Romans entspinnt, sondern im Nobelhotel Atlantic an der Alster, und statt Bier gab es je ein Kännchen Earl-Grey-Tee und ein wenig feines Gebäck – der Kontrast zu den Welten, in denen sich Anis Figuren meist bewegen, hätte größer nicht sein können.

der Freitag: Herr Ani, gestern bei der Lesung haben Sie angekündigt, dass Sie nach „Lichtjahre im Dunkel“ keinen weiteren Roman mit Tabor Süden mehr schreiben wollen. Ist er auch deshalb einer Ihrer traurigsten geworden?

Friedrich Ani: Ich empfinde das Buch überhaupt nicht als besonders traurig, aber natürlich ist es ein Abschiedsbuch. Alle Figuren nehmen von etwas Abschied, von Menschen, aber auch von ihrer Vergangenheit, von ihrem bisherigen Leben. Es finden extreme Umbrüche in den Biografien der Figuren statt. Vielleicht kann man es so sagen: Meine Grundmelancholie, die ich immer habe, war noch einmal auf die Spitze getrieben.

Wussten Sie schon, als Sie mit dem Schreiben begonnen hatten, wie der Roman enden würde?

Ja, und das ist sehr ungewöhnlich für mich, weil ich es normalerweise sehr abenteuerlich finde, herauszufinden, wie meine Bücher enden. Es war das erste Mal, dass ich schon bei der Entwicklung eines Romans das Ende geschrieben hatte, diesen Schlussmoment im Biergarten, den ich auch nicht mehr verändert habe. Normalerweise habe ich eine Vorstellung von den Handlungsbögen, aber was genau passiert, entscheidet sich jeden Tag neu. Das ist nach wie vor mit das Beste am Schreiben für mich: dass ich selbst nicht weiß, wohin es mich führt.

Wie hat dieses Wissen um das Ende den Roman beeinflusst?

Ich glaube, dass dieses Loslassen von der Süden-Figur zu einer gewissen Radikalisierung bei den anderen Figuren geführt hat, dazu, dass sie alle loslassen müssen. Das Zentrum der Erzählung ist die Brüdergeschichte, das stand von vornherein fest. Die Begegnung zweier Männer, die nichts voneinander wussten und auf extrem tragische und zynische Art zusammenkommen. Ohne zu viel darüber zu verraten, was zwischen den beiden passiert: Es ist komplett abgefahren, für meine Verhältnisse wahnsinnig viel Handlung und Action. Und es führt immer tiefer hinein ins Dunkel.

Apropos Dunkel, wie sind Sie auf den Titel des Romans gekommen?

Ursprünglich sollte das Buch „In einem Keller am Ende des Weltalls“ heißen. Das fanden erst alle gut, bis irgendwann einsickerte, dass es doch ein sehr finsterer Titel ist. Es war harte Arbeit, eine Alternative zu finden.

Warum machen Sie Schluss mit Süden?

Das ist schwer zu sagen. Vielleicht bin ich es meiner Figur schuldig, sie gehen zu lassen. Und: Ich habe Tabor Süden ja nicht gekillt, er ist nur aus meinem Romankosmos verschwunden.

Es gibt Meta-Momente im Roman, die vermuten lassen, dass nicht alles, was erzählt wird, zumindest nicht genau so, geschehen ist, dass Süden also ein unzuverlässiger Erzähler ist.

Es war eine sehr wichtige Entscheidung, dass der ganze Roman möglichweise nur eine Fantasie von Süden ist, eine Geschichte, die er aufschreibt, um sich zu erinnern, unter anderem an die Liebe zu der Polizistin Fariza Nasri. Das hat es mir leichter gemacht, das Dunkel zu beschreiben, weil ich den Süden noch einmal etwas für ihn Wichtiges, wenn auch Trauriges erzählen lassen konnte.

Wie wichtig ist Süden für Sie?

Die Figur hat mir viel Glück gebracht und es mir ermöglicht, bestimmte Geschichten zu erzählen. Aber ich wusste, ich kann nicht, wie andere Autoren, ewig weitermachen. Und ich habe ja auch schon Romane mit anderen Figuren geschrieben. Der namenlose Tag und Ermordung des Glücks etwa, mit Jakob Franck, dem Überbringer von Todesnachrichten.

Ist die Arbeit eines Schriftstellers so einsam wie die eines, sagen wir mal, Leuchtturmwärters?

Ich weiß gar nicht, ob es da einen Unterschied gibt, beide haben eine sehr ähnliche Verantwortung: Sie leiten ihre Figuren durchs Dunkel. Ich kannte nie etwas anders, ich war schon als Kind vereinzelt, arg alleinig. Einsamkeit zu empfinden kann sehr schmerzhaft sein, das habe ich auch viel zu oft erlebt. Es gibt ein Zimmer aus Einsamkeit in mir, das kann ich nicht zusperren. Ich habe mich damit arrangiert, dass dieses Empfinden ein Teil meines Lebens ist. Mit dem Thema kenne ich mich aus, und deshalb ähneln sich meine Figuren, sie alle haben dieses Verlorenheitsgen. Ich schreibe über Figuren und Themen, die mir nahe sind, über die relativ überschaubare Welt, die mir vertraut ist.

Die Figuren kommen der Welt abhanden und treffen sich dann in Kneipen wie dem Blauen Eck. Was suchen sie dort?

Im Blauen Eck und all den Kneipen finden sie vielleicht Lebens- und Leidensgefährten. Die große Sehnsucht der Figuren ist schon, jemanden zu treffen, dem man sich anvertrauen kann, und aus ihrer Situation herauszukommen, weiterzumachen. Die Figuren sind aber teilweise so tief in ihrer Kokosnuss eingeschlossen, dass sie kaum noch dazu in der Lage sind. Da prallen Einsamkeiten aufeinander, und dann schlägt’s Funken, und es geht manchmal in pure Verzweiflung über oder in Gewalt.

Beim Lesen Ihrer Romane hat man das Gefühl, dass der schlimmste Verbrecher die Zeit ist, die den Menschen ihren Lebensmut raubt.

Die ungenutzte Zeit ist eine Art Trauma von vielen meiner Figuren, die verscherbelte Zeit im Wortsinn: eine Zeit in Scherben, die nicht zu kitten ist. Manchmal haut einer ab mit der irren Sehnsucht, eine neue Zeit zu beginnen und sich selbst damit zu heilen, doch was bleibt, sind die Sehnsucht und scheue Blicke in die vielleichtdoch nicht so lausige alte Zeit.

Orte wie das Blaue Eck verschwinden langsam. Ist der Roman auch ein Denkmal für die Eckkneipe?

Nennen wir es eine Reminiszenz. Ich erinnere an diese Orte, beschwöre sie und feiere sie ein bisschen. Meist gibt es dort ja auch einen gnädigen Wirt oder eine Wirtin, die sich um die verlorenen Seelen kümmern. Laternenanzünder, die dafür sorgen, dass es nicht total finster wird.

In Ihren Süden-Romanen gibt es immer diesen schönen Trinkspruch: „Möge es nützen.“ Wo kommt der eigentlich her?

Ich glaube, dass ich damals einfach mal nachschauen wollte, was Prost oder Prosit bedeutet – und es heißt tatsächlich so etwas wie „Es nütze“.

Und: Nützt es?

Na klar! Vielleicht nicht immer, aber manchmal. Zumindest im Moment auf jeden Fall, und manchmal bleibt ein bisschen Nutzen übrig für den nächsten Tag – so eine Art positiver Kater.

Foto: Imago/Panama Pictures

Friedrich Ani wurde 1959 als Sohn eines Syrers und einer Schlesierin in Kochel am See geboren. Seine Krimi-Reihe um den Ermittler Tabor Süden wurde mehrfach mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Tabor Südens 22. und letzter Fall Lichtjahre im Dunkel erscheint bei Suhrkamp