Ein Dexit kostet jeden Deutschen 2430 Euro im Jahr

„EU-Macht begrenzen“ steht auf den Wahlplakaten der Alternative für Deutschland (AfD) für den Europawahlkampf. Doch die Forderungen der Partei gehen über die Begrenzung der Macht der Europäischen Union hinaus. In ihrem Wahlprogramm fordert die AfD die Neugründung einer europäischen Wirtschafts- und Interessengemeinschaft, weil die EU im Sinne der Partei nicht reformierbar sei. Die Ko-Vorsitzende Alice Weidel schließt auch einen Austritt Deutschlands aus der EU nicht aus, so wie das Vereinigte Königreich die EU 2020 verlassen hatte.

Ein solcher „Dexit“ käme die Deutschen jedoch teuer zu stehen. Ein Austritt Deutschlands aus der EU würde jeden Deutschen im Schnitt jedes Jahr rund 2430 Euro kosten, geht aus einer Studie der arbeitgebernahen Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) hervor, die am Montag veröffentlicht wird und die der F.A.Z. vorab vorliegt. In den ersten Jahren nach einem Austritt lägen die Kosten mit fast 5000 Euro pro Kopf im Jahr in etwa doppelt so hoch.

Dann kollabiert die EU

Wichtigster Grund für den Einkommensverlust ist, dass mit dem Austritt die engen wirtschaftlichen Verflechtungen mit den anderen EU-Staaten und auch mit Freihandelspartnern der EU zerschnitten oder beschädigt würden. Dabei dominieren für Deutschland die Bande mit den anderen 26 EU-Staaten. Sie belaufen sich auf etwa 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Zum Vergleich: Die wirtschaftlichen Bande mit den Vereinigten Staaten betragen etwa 19 Prozent des deutschen BIP, diejenigen mit China nur 7 Prozent. Es sei völlig illusorisch, Einbußen im Außenhandel mit den EU-Staaten durch Zuwächse im Handel mit Amerika oder anderen Drittstaaten kompensieren zu wollen, heißt es in der Studie.

Insgesamt läge die jährliche deutsche Wirtschaftsleistung nach einem Austritt aus der EU rund 200 Milliarden Euro im Jahr oder etwa 5 Prozent niedriger. In den ersten Jahren könnten es bis zu 10 Prozent weniger sein. Der anfängliche Wirtschaftseinbruch wäre danach in etwa doppelt so stark wie in den Rezessionsjahren 2009 während der globalen Finanzkrise oder 2020 während der Corona-Pandemie.

„Man kann Geldverschwendung, Ineffizienzen und Bürokratie in der EU kritisieren, aber unter dem Strich ist nun wissenschaftlich erwiesen: Kein Land profitiert so von der EU wie Deutschland“, sagt der Geschäftsführer der INSM, Thorsten Alsleben. „Der Dexit wäre eine Tür in den Abgrund.“ Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft wird von den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie finanziert.

„Bund europäischer Nationen“

Die in der Studie berechneten Wohlstandsverluste stellten eine Untergrenze dar, betonen die Autoren, Gabriel Felbermayr, der Direktor des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung in Wien, und die Ökonomin Inga Heiland von der Universität im norwegischen Trondheim. Viele positiven Wirkungen der EU-Mitgliedschaft lassen sich nicht berechnen, wie etwa die größere persönliche Freiheit durch die Freizügigkeit oder die Innovationsfähigkeit der Unternehmen im großen Binnenmarkt.

Unterstellt ist in der Analyse, dass die EU nach dem Austritt von Deutschland, ihrem größten Mitgliedsland, kollabiert. Die wirtschaftlichen Integrationsfortschritte der Zollunion, des Binnenmarkts, der besonderen Freizügigkeit im Schengen-Raum und der Europäischen Währungsunion würden rückabgewickelt. Das ermöglicht, die Kosten der entfallenden Integration abzuschätzen.

Die Ökonomen haben nicht berechnet, welche wirtschaftlichen Vorteile Deutschland aus einem alternativen „Bund europäischer Nationen“ ziehen würde, der der AfD als Ersatz für die EU vorschwebt. In ihrem Wahlprogramm plädiert die Partei für einen offenen Binnenmarkt in Europa und generell für den Freihandel. Die Freizügigkeit in Europa aber will die AfD stark beschränken.

Die größten wirtschaftlichen Vorteile aus der Mitgliedschaft in der europäischen Union zieht Deutschland aus dem großen Binnenmarkt von 27 Mitgliedstaaten. Die Vorteile daraus belaufen sich nach der Studie in etwa auf 3,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Freizügigkeit im Schengen-Raum bringt einen wirtschaftlichen Vorteil von etwa 1 Prozent des BIP, die Mitgliedschaft in der Europäischen Währungsunion ein Plus von 0,7 Prozent des BIP. Weitaus geringer sind die positiven Wirkungen der Zollunion und von bestehenden EU-Freihandelsabkommen mit Drittstaaten. Den gesamten positiven Effekten stehen entgegen die Zahlungen Deutschlands an die EU von netto etwa 0,2 Prozent des BIP. Insgesamt ergibt sich ein Plus von etwa 5 Prozent des BIP oder je Kopf gerechnet von 2430 Euro im Jahr. „Die EU-Mitgliedschaft stellt ein ausgezeichnetes Geschäft für die Bundesrepublik dar“, schreiben Felbermayr und Heiland.

Ein deutscher Ausstieg aus der EU würde nach der Studie alle Wirtschaftssektoren in Deutschland teils drastisch treffen. Die reale Wertschöpfung in der Industrie ginge um 7 Prozent zurück. Besonders betroffen wären Metalle, Kunststoffe, Chemie und Lebensmittel. Die reale Wertschöpfung im Dienstleistungssektor fiele um mehr als 4 Prozent und in der Landwirtschaft um 8 Prozent.

Die Ergebnisse der Studie der INSM decken sich grob mit Berechnungen des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft. Das IW hatte für das fünfte Jahr nach einem Austritt einen Wohlstandsverlust in Höhe von 5,6 Prozent des realen BIP geschätzt. Damit wäre ein Verlust von etwa 2,5 Millionen Arbeitsplätzen verbunden. Für die ersten fünf Jahre insgesamt hatte das IW einen volkswirtschaftlichen Schaden von 690 Milliarden Euro ermittelt. Dabei unterstellen die IW-Forscher einen EU-Austritt Deutschlands analog dem Austritt des Vereinigten Königreichs, nicht aber wie in der Studie der INSM einen kompletten Zusammenbruch der EU.