Die Hofmarschallin: Erica Pappritz stürzt in Bonn extra dies „Buch dieser Etikette“

Leute stehen beisammen, plaudern, das Wort geht hin und her. Da fordert jemand: „Achtung!“ Nun, was passiert jetzt? Hören die Versammelten fortan aufmerksamer zu? Nehmen mehr Anteil aneinander? Oder steht alles stramm, Hände platt an der Hosennaht, Stierblick geradeaus, das Hirn im Eimer?

Zu einer Zeit, als die Deutschen kürzlich erst ihrer Rechten abgerungen hatten, nicht länger bei jedem Gruß völkisch-spasmisch emporzufliegen – kaum zwölf Jahre nach zwölf Jahren Hitlergruß –, erschien in der BRD ein dicker Wälzer über fein gesittetes Benehmen. Es kamen da zeitgleich die Memoiren jener Generäle auf den Markt, die jüngst noch (und teils wieder) das Sagen hatten und nun, da keine fremde Siegermacht mehr Zensur übte, endlich schreiben durften: Es war nicht alles schlecht! Jene zahlreichen Erinnerungen an die „unschuldige“ Wehrmacht, ihren schneidigen Kadavergehorsam, das bitterbös-kalte Russland und Rommel, den Irgendwie-sexy-Wüstenfuchs, hat der Bonner Bundestag meines Wissens nie getadelt. Ein Buch der Etikette im März 1957 schon. Wieso?

Er wolle keinen neuen Knigge schreiben, verkündet Autor Karlheinz Graudenz zu Beginn seiner 500 Seiten. Bemerkt aber gleich, dass der berühmte Name „einem Menetekel gleich“ zur Stelle sei, „wann immer uns einmal die Kartoffel von der Gabel gleitet, in die Cumberland-Sauce fällt und dem eigenen blütenweißen Hemd“ – blütenweiß, logisch – „ein pastellfarbenes Batikmuster verleiht“.

Graudenz’ Archeget Adolph Freiherr Knigge war, im Gegensatz zu seinem Follower 200 Jahre später, ein streitbar progressiver Geist, polemisch, bissig. Er hatte zunächst als Satiriker Furore gemacht. Ein deutscher Beaumarchais, übersetzte er das Libretto zu Mozarts Le nozze di Figaro, verspottete die an den deutschen Adelssitzen sich tummelnden Hofschranzen. Man schimpfte ihn einen „Volksaufwiegler“. Sein Buch Über den Umgang mit Menschen war, als es 1788 erschien, nun keine Satire, aber so sehr die Schrift eines Freigeists, dass dessen italienische Ausgabe um ein Haar auf dem päpstlichen Index gelandet wäre. Knigge ermunterte, erhellte das Denken. Er lehrte den aufstrebenden Bürger Menschlichkeit. Seither vielhundertfach aufgelegt, ist sein hochberühmtes Werk vielhundertfach entschärft, simplifiziert, verfälscht worden. Heute steht der aufklärerische Freiherr als Wackeldackel in Kleinbürgers Vitrine, die wir das popkulturelle Gedächtnis nennen, und zeigt, dass Revolutionäres noch immer eingehegt, auf Wellness-Niveau gebracht und zur Checklist verstümmelt wurde. Und da wir sowieso geneigt sind, die Aufklärung in Zweifel zu ziehen, wenden wir uns gelangweilt von ihm ab und lieber gefühlten Wahrheiten und gefakten Realitäten zu.

1956 nimmt Karlheinz Graudenz seine Leserschaft an die Hand, um ihr die vielen ach so tückischen Fettnäpfchen aufzuzeigen, in die zu treten man jederzeit Gefahr läuft. Will zu Höherem aber auch hinauf, will mehr liefern als bloß eine Liste von Benimm-Tipps à la „Auf den Tisch gehört der Kuchen, haben Füße nix zu suchen“, will Lebenshilfe geben. Doch wo immer der Autor anhebt, über Sittlichkeit zu schreiben – schreibt er von der Sittsamkeit. Dies tut er wortreich, spleenig, jovial auch, doch immer pingelig. „Am Tage der Vermählung vormittags tragen sowohl Bräutigam als auch männliche Gäste Cutaway und steifen Haarzylinder (keinen Chapeau Claque).“

Das Buch bietet Tipps für Klo und Abendtoilette, Einsegnung und Einäscherung. „Eine Witwe trauert ein Jahr, wobei sie üblicherweise während des ersten Halbjahres tiefe Trauer trägt.“ Der Autor weiß: „Frauen sind von Natur aus anschmiegsam.“ Und rät ihnen: „Kein ärmelloses Kleid, wenn die Arme nicht hübsch sind.“ Hier und da streut er Scherzchen ein. „Schau dir einmal an, was die amerikanischen Teenager (die bekanntlich nicht am Tee nagen, sondern Mädchen ab vierzehn sind) mit ihrer Cottonmode für reizende Schnitte haben.“

Der Ratgeber passt in seine Zeit wie das Cocktailkleid zur Blauen Stunde. Der aufstrebende Leser, der ihn am Katzentisch studiert, darf sich hinauffantasieren an die Tafel der Reichen. Das Buch weist ihm den Weg ins westdeutsche Wirtschaftswunder. „Wir haben gesehen, dass Tischordnung Rangordnung ist.“ „Wo wir sind, ist oben.“ Seit wann führt so was zu einer Anfrage im deutschen Bundesparlament?

Weil eine Frau zu Fall gebracht werden soll, die einigen Leuten schon längere Zeit missfällt. Sachbuchautor Graudenz, „Weltenbummler, Porsche-Fahrer, 44 Jahre alt, ein Berliner, der 1949 nach München kam und heute in einer Villa in Baldham bei München wohnt“ – so skizziert ihn im März 1957 Der Spiegel in einer Titelstory zur „Causa“ –, schrieb seine Handreichung des guten Benehmens nicht allein, sondern „unter Mitarbeit von Erica Pappritz“. Ihr Name steht auf dem Buchumschlag und soll das Werk aufwerten. Vermutlich stammt von ihr, was über Tisch- und Rangordnung gesagt wird. Denn „das Fräulein Erica Pappritz, 63, Vortragende Legationsrätin“ (Der Spiegel) ist stellvertretender Protokollchef (!) im Auswärtigen Amt. Dieses Ministerium ist zuständig für alles Staatszeremonielle und Erica Pappritz die höchste Anstandsdame im Land.

Merkwürdige Allianz

Sie ist eine Frau mit feinem Gespür, herausragendem Organisationstalent und eiserner Beharrlichkeit. Etikette und Rangfragen sind schon in der Weimarer Republik ihr Metier gewesen. Dann in Hitlers Diktatur als NSDAP-Mitglied. Zielstrebig steigt Erica Pappritz auf. Sie managt Empfänge, Tafelrunden, Beisetzungen und schließlich den „großen Bahnhof“.

Bei der Geburt der BRD ist sie prompt zur Stelle und dirigiert das Serviettenfalten. Gut ein Jahr nach ihrem Eintritt in den Bonner Auswärtigen Dienst wird sie Beamtin und bald darauf, was zur seligen deutschen Kaiserzeit Geheimrat hieß: Vortragender Legationsrat. Sie trägt gelegentlich Monokel, raucht Kette, leidet unter Migräne. Als Ballettmeisterin diplomatischer Begegnungen ist sie unschlagbar. Zwei Mitarbeiterinnen sind in ihrem Vorzimmer tätig. Der Spiegel outet: „Das 37-jährige Fräulein Boss, im Hause ‚Bösschen‘ genannt, ist zudem die – wie soll man sagen – Wahlnichte der Erica Pappritz. Auf der Flucht durch die Tschechoslowakei lernte man sich kennen und schätzen. ‚Bösschen‘ arbeitet seitdem nicht nur im Vorzimmer, sondern wohnt auch bei der stellvertretenden Chefin des Protokolls.“

Erica Pappritz’ Ehrgeiz, da es der Ehrgeiz einer Frau ist, beginnt die Herren Kollegen zu nerven. Herrisch, so heißt es, werde sie zunehmend und kenne ihre Grenzen nicht. Mit Ordensschärpe und Spange erscheine sie gelegentlich bei diplomatischen Empfängen, setze forsch ihre Meinung durch. Weil sie weiß, was sie wert ist, und es verstanden hat, sich unentbehrlich zu machen, hasst man sie. „Das Selbstbewusstsein der Pappritz hat einen bemerkenswert hohen Pegelstand erreicht“, meint der den Bonner „Skandal“ eilfertig vorbereitende Spiegel.

Einen Tag nach Erscheinen der Story wird die Kleine Anfrage im Bundestag gestellt. Sie kommt nicht, wie man vielleicht erwarten sollte, von einem Mann, dem Erica Pappritz auf den Schlips trat. Annemarie Renger hat sie eingebracht. Sie ist die damals jüngste Abgeordnete im Bundestag, später dessen Präsidentin, konservative Sozialdemokratin. Marie-Elisabeth Lüders (FDP), Alterspräsidentin des Hauses und Frauenrechtlerin seit Weimarer Tagen, hatte bereits zuvor dem Außenminister eine Beschwerde gegen Frau Pappritz zugesteckt. Beide wollen die 63-Jährige aus dem Amt haben. So bildet sich eine merkwürdige Allianz. Den einen ist die Pappritz zu kühn. Anderen zu sehr von gestern. Das Parlament amüsiert sich indes, boshaft. Frau Renger fragt, ob das Ministerium vom Nebenjob seiner Legationsrätin gewusst habe und ihn gutheiße. Der Staatssekretär antwortet. Was er sagt, ist wie üblich intern vorbereitet. Der Spiegel jedoch weiß vorab: „Weder in der ursprünglichen noch in der letzten Fassung der für den Bundestag bestimmten Antwort wird die Tatsache erwähnt, dass der Autorenvertrag der Erica Pappritz mit dem Perlen-Verlag im Auswärtigen Amt ausgearbeitet worden ist.“ – Erica Pappritz verlässt wenige Monate später ihren Posten und geht in Pension.

Als das Buch der Etikette 1956 erschien, das erst der Lärm im Jahr darauf zum Bestseller macht, startete am New Yorker Broadway My Fair Lady ihren Welterfolg. Das Musical erzählt bekanntlich, dass zwei „eingefleischte Junggesellen“ – nein, nicht sich ein Zimmer nehmen und dort miteinander Spaß haben. Sondern wetten, dass der eine es schafft, eine junge Frau „aus der Gosse“ so umzuerziehen und ihr eine andere Sprache einzubläuen, dass sie binnen Kurzem als „Dame der Gesellschaft“ durchgeht. Das geschieht. Eliza Doolittle, um die gewettet wurde, wird neu eingekleidet, glatt gebügelt, umgekrempelt, traktiert und gedrillt. Mit lustiger Musik. „Ich weiß, wie gut Sie zu mir sind!“, singt sie froh. Doch die Zucht kennt keine Pause: „Noch einmal, was macht dann das Grün?“ Na was? Es grünt. Das Wirtschaftswunder.