China-Europa-Handel: Auf der eisernen Seidenstraße an Russland vorbei

Die Schlachtfelder der Ukraine liegen mehr als 1000 Kilometer Luftlinie entfernt, und doch spürt Münir Kuskapan die Erschütterungen des Kriegs jeden Tag. Der Vorsteher des Bahnhofs in der osttürkischen Provinzmetropole Erzurum ist nicht böse darüber. Im Gegenteil: Seit ein Teil des nördlichen Bahnkorridors von China nach Europa kriegsbedingt ausfällt, nehmen so viele Züge ihren Weg über die Türkei wie nie zuvor. Im Schnitt ratterten jeden Tag achtmal Loks mit Dutzenden Containerwaggons im Schlepp durch seinen Bahnhof, mal mehr, mal weniger, sagt Kuskapan. Jeder Zug ein kleines Beben.

Andreas Mihm

Wirtschaftskorrespondent für Österreich, Ostmittel-, Südosteuropa und die Türkei mit Sitz in Wien.

„Wir sehen mehr Fracht“, sagt der in 36 Dienstjahren ergraute Bahnhofschef. Schon voriges Jahr sei das losgegangen, während der Pandemie, als die Schiffe unzuverlässig fuhren und die Spediteure auf den teureren, aber schnelleren Containertransport über die „eiserne Seidenstraße“ umsattelten. „In diesem Jahr läuft das sehr gut.“

Was Kuskapan im Kleinen beschreibt, bestätigt Enver Iskurt im Großen. „Für die internationalen Akteure ist die Bedeutung des mittleren Korridors noch einmal gewachsen“, sagt der Vizeverkehrsminister in Ankara. Er sieht das gerne, investiert die Türkei doch viel Geld, um Logistikdrehscheibe zwischen Asien und Europa zu werden – zu Wasser, zu Lande und in der Luft.

Aufwendig Route

Derzeit gingen die Transporte über Russland „wegen der geopolitischen Situation“ zurück, bestätigt Clemens Först, der Vorstandssprecher der Rail Cargo Group der Österreichischen Bundesbahnen ( ÖBB ). Tatsächlich meldete die auf der Europastrecke von zweistelligen Zuwachsraten verwöhnte staatliche chinesische Bahngesellschaft China Railway für das erste Halbjahr 2022 nur noch ein Plus von gut 2 Prozent. Das waren 7473 Züge und 720.000 Container, nicht nur nach Duisburg. Jetzt wird die Konkurrenz noch größer: ÖBB-Manager Först glaubt, dass der mittlere Korridor „in den nächsten Jahren sehr, sehr viel Bedeutung gewinnen wird“. Er hat deswegen eine Gesellschaft in Schanghai gegründet, die ÖBB-Containerzüge auch südlich an Russland vorbei nach Europa fahren lassen soll.

Karte Güterverkehr auf der Schiene zwischen Europa und China

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Lkw-Spediteure setzten ebenfalls verstärkt auf diese Route. Wegen der „zunehmenden Bedeutung des mittleren Korridors als Alternativroute zu den nördlichen Verkehrsverbindungen über Russland“ baut der österreichische Speditionskonzern Gebrüder Weiss seinen Standort im georgischen Tiflis aus. Er ist damit nicht allein.

Die Strecke führt wahlweise per Fähre über das Schwarze Meer oder die Türkei nach Georgien, von dort über Aserbaidschan und das Kaspische Meer nach Kasachstan oder Turkmenistan und von dort aus an die Werkstätten Chinas. Das ist zwar weiter, aufwendiger und teurer als die Nordroute, aber die Bahntransporte erreichen mit 12 bis 18 Tagen Dauer Europa immer noch schneller als per Frachtschiff.

Containerterminal in karger Landschaft

Nehmen die Container nicht die Fähre aus dem georgischen Batumi in den schon heute überfüllten rumänischen Schwarzmeerhafen Constanța, werden sie Münir Kuskapans Bahnhof in Erzurum passieren und womöglich ein paar Kilometer westlich Station machen.

Dort, in 2000 Meter Höhe, hat die türkische Staatsbahn TCDD ein nagelneues Containerterminal in die karge Landschaft betoniert. Hier werden Güterzüge zusammengestellt, hier wird entschieden, welche Ware vielleicht bis nach Schanghai geht, in den türkischen Mittelmeerhafen Mersin oder via Istanbul in die EU gefahren wird.

„Von hier aus kann man Waren in die ganze Welt exportieren“, sagt Erzurums Gouverneur Okay Memis. Sein Problem ist, dass hier, in einer strukturschwachen Region 300 Kilometer von Armenien und dem Iran entfernt, nur wenige Unternehmen produzieren wollen – trotz zahlreicher Hilfen, darunter Befreiungen von Steuern und Sozialkosten. Ein bisschen Hoffnung gibt nun das Logistikzentrum. Die Aufschriften auf den Containern verweisen auf Absender aus der Türkei, Aserbaidschan und China.

Erster chinesischer Frachtzug vor drei Jahren

China spielt eine wichtige Rolle für die türkische Eisenbahn, die aus Pekinger Perspektive eine Art eiserne Fortsetzung der Seidenstraße ist. „Durch die Integration der Türkei hat China eine zusätzliche strategische Option in der Konnektivität seiner Transportinfrastruktur nach Europa“, sagt der Wirtschaftsexperte Jens Bastian von der Stiftung Wissenschaft und Politik, der sich seit Jahren mit Chinas „Neuer Seidenstraße“ befasst.

Erst drei Jahre ist es her, dass ein Frachtzug aus China erstmals den Bosporus unterquerte und bis nach Prag fuhr. Damit war eine echte Land-Alternative zum nördlichen Korridor der Transsibirischen Eisenbahn geschaffen. Doch der 13,6 Kilometer lange Eisenbahntunnel unter dem Bosporus ist ein Engpass geblieben.

Wegen der Überlastung mit Personenzügen am Tag dürften Frachtzüge ihn lediglich nachts passieren. Das aber reicht nicht, um die wachsende Nachfrage zu befriedigen. Denn die türkische Exportwirtschaft mit ihren immer neuen Rekorden läuft wie eine von der Regierung bestens geschmierten Maschine.

Konzerne kommen kaum hinterher

Internationale Logistikkonzerne kommen schon jetzt mit dem Ausbau ihrer Frachtkapazitäten kaum hinterher – da hätte es gar nicht der westlichen Sanktionen gegen Russland bedurft, die nun vielen Lagerhausbetreibern und Spediteuren einen zusätzlichen Schub im Handel mit Russland verleihen. Westliche Konzerne lassen nach eigenem Bekunden die Finger davon, das Geschäft werde meist von türkischen oder neu gegründeten russischen Frächtern abgewickelt.

Abhilfe im schleppenden Bahnverkehr nach Südosteuropa soll eine weitere Bosporus-Querung schaffen. Dafür sollen zwei Gleise inmitten der bestehenden dritten Brücke über die Meerenge zwischen Asien und Europa gelegt werden.

Auch wenn die Brücke schon steht, so schätzt Vizeverkehrsminister Iskurt die Investitionskosten samt Anbindung auf 6,8 Milliarden Euro. Die Ausschreibung soll 2023 starten. Fünf Jahre später könnte das Projekt abgeschlossen sein, glaubt Iskurt. Auch der Chef der Investitionsagentur Invest in Turkey, Burak Daglioglu, wirbt dafür: „Wir müssen die Türkei besser an die EU anbinden.“

Überall Engpässe

Die Nahtstelle zur EU ist nicht der einzige Engpass auf dem Gleisbett der eisernen Seidenstraße. Nach Osten häufen sich die Problemstellen. Dass in Georgien die Waggons auf die breitere, russische Spurweite umgestellt werden müssen, gehört zu den kleineren. Tatsächlich ist das Interesse Georgiens an türkischen Güterzügen überschaubar. Die Georgier würden den zusätzlichen Verkehr nach Europa lieber über ihre Häfen abwickeln, bestätigt der türkische Vizeminister Iskurt Angaben von Spediteuren.

Zwar erhalte der mittlere Korridor durch die russische Invasion in der Ukraine eine strategische Aufwertung, sagt Wissenschaftler Bastian. Allerdings sei „seine kurzfristige Ausbaufähigkeit durch zahlreiche geographische, logistische, finanzielle und zwischenstaatliche Hürden gekennzeichnet“. Zudem werde häufig das Problem der Korruption bei der Grenzabfertigung unterschätzt.

Die Osteuropabank EBRD lässt derzeit eine Studie über die Chancen der südlichen Umfahrung Russlands erstellen. Ergebnisse sollen Mitte 2023 vorliegen, doch die Zwischenergebnisse sind ernüchternd. Überall Engpässe: im Schienennetz, bei dessen Elektrifizierung, beim Zoll, der Digitalisierung und vor allem beim Fährverkehr über das Kaspische Meer. Die Bank beziffert den „unmittelbaren Investitionsbedarf für die Modernisierung der Infrastruktur des mittleren Korridors auf etwa 3,5 Milliarden Euro“. Die wirtschaftliche Effizienz müsse noch bewertet werden.

Eine ernsthafte Alternative zur Transsibirien-Route ist der mittlere Korridor noch lange nicht. Gemessen an dem breiten Fluss der Nordroute, über die im vergangenen Jahr 1,5 Millionen Container transportiert wurden, ist der mittlere Korridor ein Rinnsal: 20 000 Standardcontainer wurden im ersten Quartal 2022 über Kasachstan an den kaspischen Häfen Aktau und Kuryk abgefertigt. Wenn es am Jahresende 80.000 wären, wäre die maximale Jahreskapazität von 100.000 bis 120.000 Einheiten schon fast erreicht, bilanziert die EBRD.

Im Vergleich mit der transsibirischen Route brauche man auf dem südlicheren Korridor zudem bis zum Doppelten an Zeit, „und auch die Transportkosten sind deutlich größer“, sagt ÖBB-Rail-Cargo-Chef Först. Deshalb werde „die dominante Route in naher Zukunft, und solange es die Sanktionen zulassen, die transsibirische bleiben“.