Cannes-Gewinner 2024 und Festivalbilanz: Goldene Palme zu Händen Sean Bakers „Anora“ – WELT

Ästhetik hatte sich die Jury des Filmfestivals von Cannes als Kriterium auf die Fahnen geschrieben. Mit einem Transmusical, einer Sexarbeiterkomödie, feministischem Body-Horror, einem iranischen Widerstandsdrama und einer indischen Hymne an die Schwesterlichkeit zeichnet die Jury am Samstagabend nach zwei Wochen Filmmarathon an der Croisette nun zwar die politischsten, aber auch die mit Abstand überzeugendsten Filme aus. Hier herrscht ausnahmsweise Einigkeit zwischen Kritikern, Publikum und Jury.

Wo die beiden Sandra-Hüller-Filme, Justine Triets Justizdrama „Anatomie eines Falls“ und Jonathan Glazers Auschwitz-Film „The Zone of Interest“, im vergangenen Jahr die beiden Hauptpreise gewannen, geht der diesjährige Holocaust-Film, mit dem als letztem Beitrag im späten Freitagabendprogramm niemand mehr rechnete, leer aus. Der Animationsfilm „The Most Precious of Cargoes“ des „The Artist“-Regisseurs Michel Hazanavicius beginnt als entzückendes Heidi-Märchen über ein Holzfäller-Ehepaar und entpuppt sich schließlich unerwartet als erschütternde Konzentrationslager-Lehre.

Drehbuchpreisgewinnerin Coralie Fargeat und Schauspielerin Demi Moore (r.)
Drehbuchpreisgewinnerin Coralie Fargeat und Schauspielerin Demi Moore (r.)
Quelle: picture alliance/ipa-agency/Simone Comi

Den Preis für das beste Drehbuch nimmt Coralie Fargeat für ihren feministischen Body-Horror-Trip „The Substance“ entgegen, einen Publikumsliebling, der mit überwältigenden Bildern, einer konsequenten Allegorie auf Altersdiskriminierung und Schönheitsnormen und nicht zuletzt einem starken Comeback der 61-jährigen Schauspielerin Demi Moore überzeugt. „Ich glaube, wir brauchen eine Revolution“, verkündet Fargeat in ihrer Dankesrede.

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Der Preis für die beste Schauspielerin geht an das schwesterliche Ensemble aus „Emilia Pérez“: an Selena Gomez als verlassene Mafia-Braut, an Zoe Saldaña als unterforderte Anwältin, an Adriana Paz als ängstliche Witwe und an Karla Sofía Gascón, die die Hauptfigur Emilia Pérez vor und nach der Geschlechtsangleichung sowie vor und nach der Wandlung vom Mafia-Boss zur NGO-Leiterin spielt. Die Bühne betritt Gascón jedoch allein. Sie dankt ihrer Familie unter Tränen. „Natürlich widme ich diesen Preis auch allen Transpersonen, die jeden Tag leiden. Dieser Preis ist für uns!“

Karla Sofia Gascón, Hauptdarstellerin in „Emilia Pérez“
Karla Sofia Gascón, Hauptdarstellerin in „Emilia Pérez“
Quelle: picture alliance/dpa/Invision/AP/Andreea Alexandru

Als bester Schauspieler wird Jesse Plemons aus Yorgos Lanthimos Experiment „Kinds of Kindness“ geehrt, der in drei aufeinanderfolgenden Kurzfilmen drei verschiedene Rollen spielt, darunter einen Mann, der so sehr von seinem Chef abhängig ist, dass er für ihn mordet. Plemons nimmt den Preis nicht selbst entgegen, sondern lässt einen kurz angebundenen Dank ausrichten.

Ein Spezial-Preis geht an Mohammad Rasolouf, der aus dem Iran fliehen musste, um einer Gefängnisstrafe und Folter für seine Aussagen gegen das islamische Regime zu entgehen. Sein Film „The Seed of the Sacred Fig“ unternimmt einen wilden Genre-Wechsel. Was als typisch iranisches Familien-Kammerspiel beginnt, verwandelt sich schließlich in einen Roadtrip und schlägt dann in eine actionreiche Verfolgungsjagd um. Es ist das Spiel mit Begrenzung und Öffnung, das Variieren zwischen den Revolutionsszenen auf den Straßen, die wir nur in Handy-Aufnahmen aus den sozialen Medien zu sehen bekommen, und den Krisen im Privaten des vermeintlich sicheren Hauses, die Rasoloufs Theokratie- und Misogynie-Kritik nicht nur inhaltlich, sondern auch ästhetisch glänzen lassen.

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Die simple Idee, dass der konservative Vater und Revolutions-Richter Iman seine Waffe nicht mehr findet, und nun herausfinden muss, wer sie gestohlen hat, eine seiner Töchter oder seine Frau, entwickelt sich zum atemberaubenden Sinnbild für die Möglichkeiten von Widerstand im Kleinen. Rasoulof erinnert in seiner Dankesrede an alle Schauspieler, die immer noch im Iran festgehalten werden. „Ich bin sehr traurig, jeden Tag Zeuge des Desasters eines totalitären Regimes zu werden. Die Situation ist in vielen Orten auf der Welt sehr ernst, aber die iranischen Menschen werden von ihrer Regierung als Geiseln gehalten.“

Der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof, Gewinner des Prix Spécial
Der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof, Gewinner des Prix Spécial
Quelle: picture alliance/dpa/AFP/Sameer Al-Doumy

Als besten Regisseur kürt die Jury unter dem Vorsitz von Greta Gerwig den Portugiesen Miguel Gomes für seinen Schwarz-Weiß-Film „Grand Tour“, eine komplizierte Kolonialzeit-Romanze. In seiner Rede verweist Gomes auf das portugiesische Kino, das sonst selten im Rampenlicht stehe.

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Der Preis der Jury geht – wie bereits der Schauspiel-Preis – an das Wagnis „Emilia Pérez“ des französischen Regisseurs Jacques Audiard. Ihm gelingt es auf schwindelerregend extravagante Weise, die sonst oft mit unerträglicher Drögheit und Betroffenheit vorgetragenen Themen Transgender und mexikanische Drogenkartelle als äußerst unterhaltsames Musical auf die Leinwand zu bringen, das zwischen Camp, Action und Melodram changiert. Inmitten eines Mafia-Entführungsplots plötzlich einem gesungenen Gespräch zwischen einem Arzt und einer Anwältin über die Ethik geschlechtsangleichender Operationen zuzuhören, gehört zu den aufsehenerregendsten Momenten dieser Wochen.

Natürlich durfte auch der erste indische Wettbewerbsbeitrag seit 30 Jahren nicht leer ausgehen. Der Grand Prix geht an „All We Imagine As Light” über junge Frauen, die in Mumbai als Krankenschwestern arbeiten und nach der Liebe suchen. Ein sanfter, zurückhaltender Film der Regisseurin Payal Kapadia, der weniger über einen Spannungsbogen als über charmante Details und eine poetische Atmosphäre funktioniert. „Frauen werden oft gegeneinander aufgehetzt. Dabei ist Freundschaft und Solidarität zwischen Frauen so wichtig. Dahin sollten wir alle streben“, betont Kapadia in ihrer Rede, die so unaufgeregt wirkt wie ihr Film.

Coppolas Alterswerk geht leer aus

Vor dem Höhepunkt des Abends überreicht der 85-jährige Francis Ford Coppola die Ehrenpalme für sein Lebenswerk an den 80-Jährigen „Star Wars“-Regisseur George Lucas. Francis Ford Coppolas größenwahnsinniges Alterswerk „Megalopolis“, für dessen Finanzierung er seine Weingüter verkaufte und an dem er 40 Jahre arbeitete, konnte die Jury genauso wenig überzeugen wie die meisten Festivalbesucher und ging dementsprechend leer aus. Am Samstagmorgen überraschte Coppola das Publikum in der letzten Vorstellung seines Films, als er unangekündigt die Bühne betrat und zum frühen Aufstehen um 8:30 Uhr und dem Willen gratulierte, noch ins Kino zu gehen und Filme gemeinsam zu schauen.

Adam Driver (l) unterhält sich mit Regisseur Francis Ford Coppola auf dem roten Teppich
Adam Driver (l) unterhält sich mit Regisseur Francis Ford Coppola auf dem roten Teppich
Quelle: Andreea Alexandru/Invision/AP/dpa

Als wollte er sicherstellen, dass zumindest diese allerletzten Zuschauer im Gegensatz zu den meisten anderen der vergangenen zwei Wochen seinen Film verstehen würden, schickte er die Erklärung seiner Botschaft voraus: Er handle davon, dass wir nur ein Leben und einen Planeten hätten. Zumindest den Preis für die größte Überraschung vor und während eines Films hätte Coppola verdient – mitten im Film steht eine echte Person aus dem Publikum auf, stellt Adam Driver eine Frage, und dieser beantwortet sie auf der Leinwand. Es wird zu sehen sein, wie dieser erfrischende theatrale Meta-Coup in die Kinos weltweit zu übertragen sein wird, sollte der Film trotz negativer Kritiken einen Verleih finden.

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Und die Goldene Palme sichert sich schließlich „Anora“ des Briten Sean Baker, eine clevere Reflexion über Sex, Liebe und Ökonomie. Im Gewand einer rasanten Suchfahrt durch New York wirft das Treffen einer Sexarbeiterin (Mikey Madison) aus Brooklyn und eines russischen Oligarchensohns (Yuriy Borisov) die Frage auf, inwiefern Liebe jenseits der Währungen Geld und Körper existiert. Bakers intelligentes Drehbuch sprüht vor witzigen Ideen, actionreicher Spannung und unerwarteten Wendungen. Es ist einer dieser Filme, bei denen man sich in jeder Szene neu hinterfragen muss, ob man das, was man gerade sieht, wirklich richtig einordnet – und ob nicht am Ende doch alles ganz anders ist.

„Anora“ hat das geschafft, was in einem der anderen Film des Wettbewerbs, in Paolo Sorrentinos „Parthenope“, als Wissenschaft der Anthropologie definiert wird: uns sehen zu lehren. Oder, um es mit einer Figur aus Gilles Lellouches „L‘amour ouf“ zu sagen: „Eine Metapher ist eine Lüge zu erzählen, um die Wahrheit zu sagen.“ Seinen Film widmet Baker bei der Preisverleihung „allen Sexarbeitern, in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft“.

Source: welt.de