Cannes: „Anora“ und „Motel Destino“ – Endlich Sex, jener Spaß macht – WELT

Das Thema Cannes ist vom Thema Sex nicht zu trennen. Von der Sinnlichkeit, der Leidenschaft, der Erotik. Aber auch von ihren Kehrseiten – der Gewalt, den Übergriffen, der Objektifizierung. Schon im Vorfeld machte das Filmfestival Schlagzeilen wegen sexueller Übergriffe von Regisseuren wie Francis Ford Coppola sowie einer vieldiskutierten MeToo-Liste, die dann nie auftauchte.

Was aber haben die Filme selbst über das Verhältnis von Sex und Macht zu sagen? Zunächst einmal steht fest: Den Vorwurf der Prüderie muss sich die diesjährige Wettbewerbsauswahl nicht gefallen lassen. Nackte Körper, meistens Frauenkörper, lassen sich in fast allen Filmen bestaunen, vom Pornosex in „Kinds of Kindness“ über die intensive Selbstbeschau in „The Substance“, erotische Lapdances in „Anora“, riskante Seitensprünge in „Motel Destino“, Geister verstümmelter Ehefrauen in „The Shrouds“ bis hin zum Bühnensex vor Publikum in „Parthenope“.

Zwei Wettbewerbsfilme widmen sich sogar in einer seltenen Lockerheit und schambefreiter Selbstverständlichkeit dem Sex als Arbeit. Da ist erstens Sean Bakers wunderbare Liebeskomödie „Anora“ über Ani, eine 23-jährige Stripperin aus Brooklyn (Mikey Madison). Eines Tages lernt sie in dem Erotik-Club, in dem sie arbeitet, den 21-jährigen russischen Oligarchensohn Vanya (Mark Eydelshteyn) kennen. Die beiden verstehen sich auf Anhieb, zwischen vielfältigen Sex-Sprints spielen sie Videospiele, lachen, flirten, feiern, ziehen mit seinen Freunden um die Häuser, reisen spontan nach Las Vegas. Dafür, dass Vanya und Ani eine Woche lang „exklusiv“ sind, erhält sie 15.000 Dollar. „Ich hätte es auch für 10.000“ gemacht, neckt sie ihn nach dem abgeschlossenen Deal. „Wenn ich du wäre, würde ich es nicht unter 30.000 machen“, stichelt er zurück.

Lesen Sie auch
Der junge Donald Trump (Sebastian Stan)
Trump-Film in Cannes
Lesen Sie auch
Sue (Margaret Qualley) ist jung, schön und perfekt
Filmfestspiele von Cannes

Eydelshteyn spielt den verwöhnten Millionärserben mit einer Timothée-Chalamet-haften Leichtigkeit, die zwischen Kindlichkeit, Arroganz und Hingabe oszilliert. Madison versieht die Stripperin mit einer Fröhlichkeit und Willensstärke, die nie aufgesetzt wirken. Baker tut gut daran, ihr weder Kindheitstraumata noch Herkunftsscham noch angeblich überraschende Hobbys wie Hegel-Lesen anzudichten. Auch von Klischee-Sätzen über den Unterschied zwischen wahrem Ich und täuschender Oberfläche bleiben wir, anders als in anderen Filmen dieses Genres, verschont. Einzig hätte man sich gewünscht, dass Ani etwas weniger repetitiv fluchen würde.

Besser als „Pretty Woman“

Was beiden Schauspielern unter Bakers Regie gelingt, ist der Gefahr einer kitschigen Romantisierung der Freier-Prostituierten-Beziehung a la „Pretty Woman“ zu entgehen. Vanya scheint nicht von einem Retter-Komplex getrieben, er zieht die arme Verlorene nicht aus dem Schmutz. Vielmehr begegnen sich die beiden Gleichaltrigen stets auf Augenhöhe. Man nimmt ihnen ihre Liebe ab, und als Vanya Ani nach einer Woche einen Heiratsantrag macht, sieht man gerne über die Warnsignale hinweg. Als dann eine Tanz-Kollegin und -Konkurrentin Anis auf zwei Wochen tippt, die diese Ehe halten werde, will man das wie Ani nicht wahrhaben. Allein das ist schon ein Drehbuch-Coup, den Zuschauer so für die beiden einzunehmen, dass man sich ein „Cinderella“-Ende wünscht und es den Liebhabern trotz oder gerade wegen ihres offensiven Reflektierens der Währungen Geld und Körper, mit denen sie handeln, auch noch zutraut.

Großartig: Mikey Madison (Anora) in Cannes
Großartig: Mikey Madison (Anora) in Cannes
Quelle: Getty Images

„Anora“ schreitet genau im richtigen Tempo voran. Das Drama hält die Spannung von Anfang bis Ende, überzeugt mit witzigen Einfällen und unterhaltsamen Hindernissen. Wenn der Priester etwa mitten in einer Taufzeremonie gehen muss, weil er die Nachricht erhält, dass sein Schützling eine Prostituierte geheiratet hat, und alle auf sein Kommando warten. Das da lautet: beide Gatten festhalten und zwingen, die Ehe zu annullieren. Da Vanya aber abgehauen ist, besteht der zweite Teil des Films aus einer wilden Such-Verfolgungsjagd durch New York.

Dass man an der Croisette neben Meeresrauschen und Rotem-Teppich-Glamour auch die leichteren, fröhlicheren, besser gelaunten Filme zu sehen bekommt als im grauen Februar-Deutschland auf der Berlinale, ist keine Neuigkeit. „Anora“ ist neben Sean Bakers früheren Filmen „The Florida Project“ und „Red Rocket“ ein weiterer Beweis seiner Könnerschaft und einer der besten Filme des Wettbewerbs.

„Motel Destino“ von Karim Aïnouz

Ebenso viel leidenschaftlichen Sex wie in „Anora“ gönnt der brasilianische Regisseur Karim Aïnouz seinen Protagonisten Heraldo (Iago Xavier) und Dayana (Nataly Rocha) – ebenfalls ein Paar, das die (Film)tradition auf den Kopf stellt, indem die Frau als die ältere und somit in gewisser Weise mächtigere Person inszeniert wird. Als der 21-jährige Heraldo nach einem Zerwürfnis mit seiner Bande von Zuhause ausziehen und sich verstecken muss, findet er eine Bleibe in dem von Dayana und ihrem Ehemann Elias (Fabia Assunção) geführten Sexhotel Motel Destino an der Nordostküste Brasiliens. Dort repariert er Klimaanlagen, Sicherheitszäune und reinigt die von Orgien verwüsteten Zimmer.

Das Stöhnen der Gäste bildet die durchgehende Geräuschkulisse in dem neonfarben-fiebrigen Erotikthriller „Motel Destino“. Elias entpuppt sich als Voyeur, der nicht nur seinen Eseln beim Kopulieren zusieht, sondern auch heimlich durch eine Fensterklappe aus dem Flur heraus seine Gäste beim Geschlechtsverkehr beobachtet. Ein Akt der Gewalt gegenüber seiner Frau ist der Auslöser für die Affäre, die Dayana und Heraldo schließlich beginnen. Während Elias döst oder unterwegs ist, treiben sie es im Flur, im Hof, im ehelichen Schlafzimmer. „Die Gefahr macht den Reiz aus“, sagt Dayana fahrlässig.

Heraldo (Iago Xavier) vor dem Motel Destino
Heraldo (Iago Xavier, r.) vor dem Motel Destino
Quelle: Courtesy Festival de Cannes, 2024/

Die brasilianisch-französisch-deutsche Koproduktion des Regisseurs, der mit seinem englischsprachigen Debüt „Firebrand“ mit Jude Law und Michelle Williams schon vergangenes Jahr in Cannes vertreten war, bezeichnet sich selbst als „tropischer Noir“. Das Drehbuch, das Aïnouz gemeinsam mit Wislan Esmeraldo und Maurício Zacharias verfasst hat, sieht einige actionreiche Wendepunkte vor. Doch so richtig Spannung will nicht aufkommen. Das liegt vielleicht an den Schauspielern, von denen lediglich Fabia Assunção als gewalttätiger, lebensfroher Ehemann überzeugt. Die Szene, in der er, nachdem die drei gemeinsam eine Leiche beseitigt haben, darauf pocht, dass sie sich jetzt einen freien Tag zum Spaßhaben verdient hätten, die Musik aufdreht, und alle drei vor dem Pool eine Tanzchoreografie hinlegen, gehört zu den schönen Höhepunkten eines albtraumhaften Trips.

An dieser Stelle finden Sie Inhalte von Drittanbietern
Um eingebettete Inhalte anzuzeigen, ist deine widerrufliche Einwilligung in die Übermittlung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten notwendig, da die Anbieter der eingebetteten Inhalte als Drittanbieter diese Einwilligung verlangen [In diesem Zusammenhang können auch Nutzungsprofile (u.a. auf Basis von Cookie-IDs) gebildet und angereichert werden, auch außerhalb des EWR]. Indem du den Schalter auf „an“ stellst, stimmst du diesen (jederzeit widerruflich) zu. Dies umfasst auch deine Einwilligung in die Übermittlung bestimmter personenbezogener Daten in Drittländer, u.a. die USA, nach Art. 49 (1) (a) DSGVO. Mehr Informationen dazu findest du hier. Du kannst deine Einwilligung jederzeit über den Schalter und über Privatsphäre am Seitenende widerrufen.

Die Klischees, denen „Anora“ meisterhaft entgeht, finden sich in „Motel Destino“ ausbuchstabiert: der gewalttätige Ehemann, der junge Kriminelle aus schwierigen Verhältnissen, der jeden Tag ums Überleben kämpfen muss, die schikanierte Frau, die den Tod ihres Mannes und ihre Freiheit herbeisehnt. Kurz: überall Trauma. Die Liebe, die man der Prostituierten und dem Oligarchensohn in „Anora“ jederzeit abnimmt, wirkt zwischen der Sexhotel-Besitzerin und dem Kriminellen auf der Flucht nur behauptet.

Beide Filme scheinen jedoch den „asexual turn“, die Wende zur neuen Lustlosigkeit, unbeeindruckt an sich vorbeiziehen zu lassen. Wenn sich hier schwitzende Körper ineinander winden, dann sieht das tatsächlich ausnahmsweise nach Spaß aus.

Source: welt.de