Björn Höcke: Weiterführend Politik spricht man hier nicht

Der Weg hinauf zur Burgruine Hanstein führt aus Bornhagen
heraus. Hinter der historischen Herberge Klausenhof geht die Dorfstraße in
einen bewachsenen Feldweg über. Links bleibt hinter einer sonnenüberfluteten
Kleewiese die Kirche liegen, hinter einer mächtigen Linde das ehemalige
Pfarrhaus, rechts der eingeschossige Ziegelbau der früheren Volksschule.

Oben, von der Burg aus, zeigt sich Deutschland, wie es Björn Höcke schätzt: dicht bewaldete Berghänge so weit das Auge reicht, im Tal fließt
die Werra dahin, die Feldsteinmauern der umliegenden Burgen und Festen zeugen
vom Wirken verblichener Herrscher, erinnern an Jahrhunderte voller Dichter und
Denker.

Das 260-Einwohner-Dorf Bornhagen liegt am nordwestlichen
Zipfel Thüringens, im Eichsfeldkreis, wo Hessen und Niedersachsen auf Thüringen
stoßen, nicht weit von Deutschlands
Mitte
. Höcke bewohnt dort das ehemalige Pfarrhaus neben der Kirche. Am Fuße
des Hanstein ist Deutschland deutscher als anderswo – deutsch in Höckes Sinne:
Migration nicht wahrnehmbar, frei von störenden Windrädern, bewohnt von
arbeitenden Menschen, viele fahren Diesel. Immer Anfang August ist
Mittelalterfest.

Am 1. September ist in Thüringen Landtagswahl. Höckes AfD
wird sie Umfragen zufolge höchstwahrscheinlich gewinnen. Nicht aber in Höckes
Eichsfeld. Hier im Norden Thüringens dominiert bei Wahlen seit Jahrzehnten die
CDU. Nur das kleine Bornhagen ist in der Hand der AfD. Schon in den
Nachbardörfern, in Arenshausen, Hohengandern oder Gerbershausen liegt Höckes
Partei mitunter fast
40 Punkte zurück
. Höckes Reich ist hier klein, sehr klein. So klein, dass
er mangels guter Aussichten in seinem Heimatwahlkreis
Eichsfeld 1
auf eine Direktkandidatur verzichtete. Höcke wich nach Greiz
aus, ans andere, südöstliche Ende Thüringens. Manche sagen, es sei eine Flucht
vor der drohenden Niederlage.

Bornhagen ist nicht der Osten

Der Mann, der sein Landtagsdirektmandat in Höckes
Heimatkreis erfolgreich verteidigen dürfte, ist Thadäus König. In Sporthose und
Trikot hat der 42-jährige Christdemokrat gerade das 43.
Behindertensportfest
in der Kreisstadt Heiligenstadt angepfiffen. Dass der ehemalige Geschichtslehrer
Höcke in Eichsfeld nicht punktet, erklärt König am Rand des Fußballfeldes
historisch: In der insbesondere durch die katholische Volkskirche geprägten
Region wählten die Leute schon zur Weimarer Republik die Zentrumspartei, die
Nazis fassten hier nur schwer Fuß. Auch verfange die AfD-Kampagne Der Osten
machts
hier nicht, sagt König, weil das Eichsfeld sich eher nach Hessen und
Niedersachsen orientiere – zur Arbeit fährt man nach Bad Sooden-Allendorf, Göttingen,
Eschwege.

Woher Höckes hoher Rückhalt in seiner unmittelbaren
Bornhagener Nachbarschaft kommt, ist nicht leicht zu ermessen. Zur Kommunalwahl
im Juni erreichte die AfD in Bornhagen 37 Prozent, deutlich mehr als die CDU.
„Wir sind ein AfD-Dorf“, sagt ein überzeugter Mittsechziger, der gerade auf
seinem Gehöft an der Dorfstraße in der Garage räumt, seine Frau klammert Wäsche
auf einen Ständer. „Nur den kann man wählen“, sagt er über Höcke. Warum?
„Klarer Kopf, klare Gedanken!“ Die Grünen? „Kriegstreiber!“ Er wirkt nicht so,
als sei er mit seiner Meinung hier allein.


In Sichtweite der Familie Höcke: 2017 stellte das Berliner Künstlerkollektiv Zentrum für politische Schönheit im Garten eines dafür angemieteten Nachbarhauses eine Nachbildung des Berliner Holocaustmahnmals auf.

Und doch gibt es schon innerhalb des Dorfes Widerspruch. Ein
Mann mit grauem Stoppelhaar hat seinen Traktor am Ortsrand an einem Acker
gestoppt und schaufelt Stroh auf den Hänger, sein Oberkörper glänzt schweißnass
in der prallen Sonne. Wie er Höcke so findet? Er stützt sich auf seine
Mistgabel. Sagt, auch er wolle nicht, „dass wir in Deutschland Ausländer
durchfüttern und die Deutschen zu kurz kommen“. „Der Björn“ sei eigentlich „ein
Pfundskerl“, er kenne ihn, er habe mal das Auto „vom Björn“ repariert. Doch nur
ein einziges Mal habe er Höcke gewählt, zur Landtagswahl 2014. Denn später habe
Höcke „ein bisschen übertrieben“, als er 2017 das Holocaustmahnmal in Berlin
zweideutig „Denkmal der Schande“ nannte. „Man darf den Faschismus nicht
verherrlichen“, schimpft der Mann, er redet sich in Rage. „Das Preußentum ja,
aber nicht den Faschismus!“ Die ganze Straße kann es jetzt hören, die Spucke
fliegt. „Mit dem Mahnmal der Schande hat die Partei ihr Gesicht gezeigt!“

Wenn Höcke ein echtes Heimspiel haben will, dann muss er
raus aus Bornhagen, raus aus dem Eichsfeld, raus aus seiner Wahlheimat. Zum
Beispiel nach Suhl, zwei Autostunden entfernt. An einem Mittwoch Mitte August
ist dort beim sogenannten Familienfest der AfD der Marktplatz mit Hunderten
Menschen gut gefüllt, trotz sengender Hitze. Kinder toben auf der Hüpfburg,
Schweiß-, Grill- und Bierdunst liegen in der Luft. Höcke spricht eine Stunde
lang, ohne Manuskript: Corona, Migration, Verbrennungsmotor, Windräder, Putin.
Männer jubeln, Frauen sind hier deutlich in der Unterzahl. Ein Jugendlicher
streckt die Faust nach oben und öffnet dann die Hand – ein angedeuteter
Hitlergruß. Im Anschluss signiert Höcke fast noch mal genauso lang Plakate und
Fotos, sogar die Mountainbikes sehr junger Fans.

Zweifel am Direktmandat

Auch wenn es machtvolle Inszenierungen wie in Suhl glauben
machen wollen – Höcke ist auch in Thüringen, wo er die AfD gleichsam im
Alleingang an die Spitze der Umfragetabellen geführt hat, längst nicht mehr
unumstritten. Sätze wie „Sein Stern sinkt“ sind häufiger aus der Partei zu
hören. Zu betrachten war das etwa in Rudolstadt: Schon zur Kommunalwahl im
Frühjahr war der Widerstand gegen ihn dort so stark, dass zwei konkurrierende
AfD-Kandidatenlisten entstanden. Im ostthüringischen Greiz, wo Höcke nun für
den Landtag kandidiert, sprach er vor wenigen Tagen vor einem Häuflein von etwa
120 Menschen.  

Doch inzwischen gibt es innerhalb der Partei sogar Zweifel,
ob Höcke in seinem Ausweichwahlkreis das Direktmandat erringen kann – zur Wahl
2019 lag
die CDU vorn
. „Es ist ein hohes Risiko für ihn, dort anzutreten“, sagt ein
führender AfD-Landespolitiker über Höcke. „Das Direktmandat zu verfehlen, würde
Höckes Ansehen deutlich schaden“, sagt ein Thüringer Parteikollege aus dem
Bundestag. 

Um Höckes Image zu stärken, ließ die AfD einen Film (Der lange
Anlauf)
über sein Leben drehen: Höcke auf dem Kyffhäuser, Höcke beim Parteitag,
Höcke als Wahlkampfredner. Höcke vor Gericht, beim Wandern oder beim Holzhacken auf dem
heimischen Hof. Hundert heroisierende Minuten lang. Um seine Chancen in Greiz
zu verbessern, ruft die lokale AfD nun zur
Björn-Höcke-Simson-Tour
: Dem Vernehmen nach soll der Spitzenkandidat, der
sich im Wahlkampf mit Sonnenbrille und dem legendären Zweirad aus
DDR-Produktion als besonders jugendaffin inszeniert, zwei Tage vor der Wahl
durch den Kreis rollen, begleitet von möglichst vielen
Simson-Fans
.

Zurück in Höckes Heimatort Bornhagen. Wie ist es eigentlich,
Tür an Tür mit einem Menschen zu wohnen, den einige seiner Gegner öffentlich
Faschist nennen? Der als Chef eines vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuften Landesverbands
womöglich bald die Geschicke Thüringens lenken könnte? Wirklich darüber reden
will hier niemand. Dabei ist der Widerstand gegen den Faschismus tief in der
Ortsgeschichte verankert, sogar direkt in Höckes Haus. Das Gebäude mit der
angewitterten Holzfassade und den karminroten Fensterläden war einst das
Wohnhaus der örtlichen Pfarrersfamilie. Der erste Nachkriegspfarrer Bornhagens
war ein Mann, der als junger Theologe der Reichskirchenleitung die Gefolgschaft
verweigert hatte. Das Wittenberger Predigerseminar suspendierte ihn mehrere
Jahre. 1938 verweigerte der angehende Pfarrer dann den Treueeid auf Hitler. So schreibt
es
dessen Enkel, der Historiker Stefan Wolter, dessen Mutter im Höcke-Haus
aufwuchs.


Bornhagen, 260 Einwohner, eine evangelische Kirche, links das Gebäude der früheren Volksschule, rechts verborgen unter Grün das ehemalige Pfarrhaus, in dem Björn Höcke lebt

Vor Jahren, nach Höckes „Mahnmal der Schande“-Entgleisung,
hat ihm ein Berliner Künstlerkollektiv in Sichtweite seines Hauses einen Nachbau
des Holocaustmahnmals vor die Nase gesetzt. Lange Zeit war das Ensemble im
Nachbargarten noch öffentlich begehbar, heute rotten die Stelen aus
Theaterbeton vor sich hin, Grün wuchert sie zu. 

„Wir sprechen nicht über Politik“, sagt einer von Höckes
engsten Nachbarn, nach eigener Angabe SPD-Mitglied. „Der Björn“ komme mit allen
im Dorf gut aus, besuche auch die Dorffeste, halte sich aber im Hintergrund,
erzählt ein anderer. „Man hat sich dran gewöhnt, dass Höcke hier lebt“, sagt
Bornhagens ehrenamtlicher Bürgermeister Tobias Beckmann bei einem Rundgang
durch den Ort. „Björn“ sei unauffällig, sagt er. „Man sieht ihn selten.“ Als
würde er es widerlegen wollen, braust Höcke in diesem Moment in einem
Familienvan die Dorfstraße hinauf, Richtung Pfarrhaus.