Architekt und Designer Arne Jacobsen: Großer Körper, leichte Wirkung

Gibt es das Glück der Form? Der Wohlgestalt des Materials? Und: Findet man es auch in Castrop-Rauxel? Richten wir kurz einen Blick aufs Große und Ganze – auch außerhalb des Ruhrgebiets beschleunigt sich offensichtlich die Suche danach. Allerdings richtet sie sich nach innen, zumindest scheinen das die Ausgaben für unsere immer teurer gemieteten oder glücklich besessenen Wohnstätten anzuzeigen: In Deutschland sind „Konsumausgaben der privaten Haushalte“, wie Statista eine Erhebung überschreibt, „für Möbel, Leuchten und Teppiche“ auf immer neue Rekorde gestiegen – 50,52 Milliarden Euro im vergangenen Jahr. In diesem Jahr werden noch einmal zwei Milliarden mehr ausgegeben.

Die Suche nach dem Glück daheim übersetzt sich in den Kauf von Sesseln und Stehlampen, auch im Post-Covid-Szenario. Wichtigster Einrichter in Deutschland ist IKEA, dahinter kommt ein österreichisches Unternehmen, dass sich ernsthaft XXXLutz nennt.

Wenn wir genauer hinschauen, finden wir höchste Zuwächse bei Polstermöbeln, was den Schwenk zum Kunsthistoriker Martin Warnke notwendig macht, zur Sofaecke nämlich, der „jüngsten Dingkonstellation im Wohnzimmer“. Sie gab dem Raum – über ein Jahrhundert funktional entleert – neuen Sinn, dem Leben darin eine „monadische Eingeschlossenheit“, resümierte er 1979. Nach dem Ende der Homeoffice-Periode werden wohl gerade die Polster aufgefrischt.

Dabei läuft man gewiss auch an dem Namen Arne Jacobsen vorbei, insgesamt sorgt der Umsatz seiner Stühle, Sessel und Leuchten aber für kaum messbare Ausschläge auf der IKEA-Skala. Dabei ist es hohe Zeit, ihn als Architekten und Gestalter, als Gesamtkünstler wieder- oder neu zu entdecken. Das geht jetzt mit einem ganz wundervollen Bildband– oder man ruft Hendrik Bohle an. Der ist eben im Griechenland-Urlaub, aber für Jacobsen nimmt er sich Zeit. Allzu oft nämlich sei der nur als Gestalter von Besteck und Lampen in Erinnerung, weshalb Bohle, selbst Architekt und Ausstellungsmacher, eine Schau zusammengestellt hat, die jetzt gerade im 1956 von Jacobsen entworfenen Rathaus von Rødovre zu sehen ist.

Jacobsens gesellschaftliches Programm? Nun, das müsse man aus seinen Bauten lesen, erklärt Bohle, denn Jacobsen selbst hat fast nichts veröffentlicht, keine programmatischen Schriften, er war kein Architekt seines Ruhms, wie Bernd Polster seine kernige Biografie über den frühen Eigenbewerber Walter Gropius untertitelte. Auch nicht verheiratet mit Elissa Aalto, die das Architekturkonzept ihres Mannes Alvar unterstützte und nach dessen Ableben breit propagierte.

Sein Rathaus von Castrop-Rauxel: Jeder sollte der Politik bei der Arbeit zusehen können

Die Ausstellung schaut sich Jacobsens Bauten in Deutschland an, das Christianeum in Hamburg mit seinen nach außen gestellten Stützen und den dadurch flexiblen Innenräumen; das Foyer am Schloss Herrenhausen in Hannover, einen luftigen Riegel aus Glas und grazilem Betongerüst. Oder eben das kühne Rathaus von Castrop-Rauxel, ein Gebäude, ganz Welle und Aufschwung: Hinter dem breiten Wellental türmt sich schon die nächste Woge. All das ist nicht nur Verwaltung, darin eingeschlossen liegt ein Ratssaal, von außen einsehbar und unter dem Niveau vorbeilaufender Passanten angelegt. Darin liegt ein Prinzip von Offenheit, ein politisch lesbares Programm: Jeder sollte zuschauen können, wenn sich Politik vollzieht. Der Sprung nach Berlin, zu Norman Fosters Reichstagskuppel, ist kurz. Zumindest braucht Hendrik Bohle nicht viel dafür.

Während der Architekt Arne Jacobsen und mit ihm ein Gesellschaftsgedanke hinter große architektonische Gesten zurückgetreten sind, wurden seine Prinzipien für die Inneneinrichtung offensichtlich von der IKEA-Proliferation verschüttet: schon aus Verpackungsgründen einfache Möbel, die eher keinen Umzug überstehen. Was für ein fröhlicher Umstand, dass der fantastisch gestaltete Band Arne Jacobsen. Room 606 dagegenhält.

Jacobsen war der Sohn eines erfolgreichen Kaufmanns (Stecknadeln, Reißverschlüsse, Nähaccessoires), seine Mutter spezialisierte sich auf Blumenmalerei; eine sephardische Familie, aber nicht Teil der jüdischen Gemeinde. Er wurde 1902 geboren, starb 1971, jeweils in Kopenhagen. Dazwischen trieb er den Funktionalismus voran, mischte reduzierten Formen, zurückgenommenen, aber garantiert ein Leben (und mehr) überdauernden Gebäuden und Einrichtungsgegenständen humanistische, demokratische Farben bei. Schweigsame Zurückhaltung mag Arne Jacobsens Persönlichkeit entsprochen haben, sie spiegelt sich auch in seinem Gesamtkonzept.

Jacobsens Perspektive richtete sich an der Natur aus: Licht, Wolken, Nebel

All das konnte man im SAS-Gebäude am Kopenhagener Hauptbahnhof (heute Teil einer Luxus-Hotelkette mit schwachen Bezügen zu ihrem Ursprung) herauslesen. Jacobsen zielte darauf ab, selbst einen so großen Baukörper leicht wirken zu lassen. Ihn in die Stadt hineinzudenken, darauf zu achten, ringsum nicht alles zu erschlagen. Militärisches Auftreten mit Rasterfassaden, brutalistischer Selbstbezug waren ihm fremd. Vor allem zeigt der Bildband von Michael Sheridan in der Verbindung von äußerer Erscheinung und Inneneinrichtung, wie sehr sich Jacobsens gesamtkünstlerisch gedachte Perspektive auf die Natur ausrichtete, an Licht, Wolken, Nebel orientierte. Der Band stellt Aquarelle gegen Farbspektren von Entwürfen, leitet uns durch die Genese der bepflanzten Fensterrahmen: In der Architektur von Arne Jacobsen sollen einzelne Elemente als Äquivalent zur Naturerfahrung funktionieren.

Sheridan skizziert lange Experimentierphasen, die dem hoch aufgerichteten Baukörper (mit dessen Form der Bildband selbst spielt) über dem flachen Horizontalbau sein Gewicht nahmen. Dabei spielen Fensterbreite, Stützen und Metallprofile eine Rolle, das Grüngrau der vorgehängten Glasfassade nahm ein breites Spektrum von Lichtfarben auf. Während zur Dämmerstunde Etagen zu schweben scheinen, wirkt es an manchen Tagen, als hänge der Hotelturm ganz zwischen Wolken.

Der Band überblickt in präziser, aber nicht erschlagender Detailarbeit Referenzen und Vorarbeiten: Entwürfe, Skizzen, brillante Fotografie, technische Zeichnungen. All das, damit wir die Pfade verstehen, die zum SAS-Hotelturm führten, vom künstlerischen Umbruch zu Beginn des Jahrhunderts (Picassos Kubismus, Mondrians Abstraktion), von den Vorbildern (Mies van der Rohe oder auch das Lever House in New York). Vor allem aber von den wichtigsten eigenen Bauten, die Erkenntnisse und Lösungen zum SAS-Turm beisteuerten. „So wie Zimmer 606 ein Mikrokosmos des SAS-Gebäudes ist“, schließt Sheridan den Band mit seiner zentralen These, „so war der gesamte Bau ein Mikrokosmos von Jacobsens Arbeiten bis 1960.“

In der Moderne ist alles Glas und Transparenz? Ein Mythos, zeigt Jacobsen

Denn von den 261 Zimmern hat nur noch Raum 606 die originale Einrichtung. Hier zeigt sich, wie sich die leichtgewichtige, fast fragile Formensprache nach innen fortsetzt. Jacobsens überraschende, vor allem vielseitige, technisch interessierte Detail-Liebe bei Treppen, Tischen, Wandfarbe, Vorhängen. Das Glück der Form eben, ganz anfassbar: unaufdringliche Gestaltung, präzise Überlegungen zur Anordnung der Objekte im Raum. Da stehen Jacobsens berühmte Eier-Sessel, das matte Grün der Wände korrespondiert mit blaugrauen Oberflächen zart anmutender Sideboards aus warmem Holz. Dazu Metall von Lampen, Stuhlbeinen, Türgriffen. Runde Sitzmöbel zu rechten Winkeln.

Ein zurückgenommenes, keineswegs kühles Universum, zugleich Räume, die von Bedürfnissen ihrer Bewohner strukturiert werden. Das macht sie deutlich wärmer als die Werkbund-Ausführungen mit ihrer Orientierung an industrieller Fertigung und dem streng-erzieherischen Gestus. Jacobsen lässt dem Mythos, nach dem in der Moderne alles Glas und Transparenz sei, die Luft raus – er setzte Wände sehr genau ein, nahm ihnen mit Galerien, Farben und Verkleidungen ihre massive Gestalt.

Aus dem Interieur kann man eine gesellschaftliche Idee herauslesen: Flexible Offenheit, die Zeit überdauernde Materialien, hochwertige Serienproduktion, die wenig Ressourcen verschwendet. Vielleicht spiegelt sich darin ein wohlfahrtsstaatliches Fundament so einer Gesellschaft, der Wunsch, qualitativ hochwertige Möbel für alle herzustellen. Zugleich können wir die Verletzlichkeit einer offenen Gesellschaft erkennen, gegen die sich nordeuropäische Regierungen mittlerweile allerdings selbst wenden. Was übrig bleibt, sind Bauten und Möbel, die eine Haltung verkörpern, die sich gegen das monadische Private, gegen Überfluss und stetige Erneuerung richtet.

Arne Jacobsen. Room 606. Architektur und Design für das SAS House Michael Sheridan Michael Jensen (Gestaltung), Hatje Cantz 2023, 336 S., 60 €