Nachruf aufwärts Friedrich Schorlemmer: Aber die Fäuste haltet still

Im Frühsommer 2004 ereilten den Freitag zwei schwere Verluste, erst starb Günter Gaus, wenig später Wolfgang Ullmann, beide Herausgeber des Blattes, die nicht nur Mentoren waren, sondern stets auch Autoren sein wollten – das Prestige des Blattes, sein geistiges Format, Gesinnung und Gesittung, aber auch das Label Ost-West-Zeitung begründen halfen, das damals noch für einen entsprechenden und durchaus hilfreichen Proporz bei den Mitarbeitern stand.

Ihm eignete passionierte Friedfertigkeit

Nachfolger zu finden, die innerhalb der Redaktion auf einen nie selbstverständlichen Konsens stießen, erwies sich als schwierig und zeitraubend, bis die Schriftstellerin Daniela Dahn ihre Bereitschaft erklärte und zugleich jemanden vorschlug, der fast eine Idealbesetzung war und Wolfgang Ullmanns Vermächtnis zu verkörpern schien: Friedrich Schorlemmer, Pfarrer aus Wittenberg, der Stadt Martin Luthers. Man hatte noch im Ohr, wie er als Redner auf der Kundgebung am 4. November 1989 der Menge auf dem Berliner Alexanderplatz zugerufen hatte: „Aus Wittenberg kommend, erinnere ich Regierende und Regierte, also uns alle, an ein Wort Martin Luthers: Lasset die Geister aufeinanderprallen, aber die Fäuste haltet still.“

Ihm eignete passionierte Friedfertigkeit, die freilich denen in der DDR nichts schenken wollte, die ihren teils bemitleidenswerten Zustand im Herbst 1989 entscheidend zu verantworten hatten. Als christlicher Sozialist nahm er ihnen übel, eine historische Chance verspielt zu haben. Wir sollten schnell erfahren, wie sehr Friedrich Schorlemmer als Theologe und Buchautor dem Freitag mit seinen Texten intellektuelle Brillanz, aber auch politischen Schneid verschaffte. Ein Charakterkopf, dem taktisches Lavieren fremd und das klare Wort willkommen war. Durch den praktischen Vollzug seines Bekenntnisses zu der Maxime „Schwerter zu Pflugscharen“ wurde er berühmt, aber hat sich dessen nie gerühmt. Eher wunderte er sich im Nachhinein, dass es möglich war, in der DDR wirklich ein Schwert umzuschmieden und dadurch umzuwidmen, was 1983 während eines Kirchentages für viel Furore sorgte. Womöglich profitierte Schorlemmer vom Burgfrieden, den es in jener Zeit zwischen der Evangelischen Kirche und dem atheistischen Staat gab. Die Bischöfe und Erich Honecker trafen sich gelegentlich und respektierten die Grenzen ihres Einvernehmens.

Friedrich Schorlemmer hielt es mit dem das Leben stets erfrischenden Prinzip, nur wer sich ändert, bleibt sich treu. So wollte er als Bürgerrechtler kein Privilegierter, sondern Zeitgenosse und als solcher Zeitzeuge sein, der er sich nicht nehmen ließ, der Zeit gegebenenfalls sein Zeugnis nicht vorzuenthalten, sondern zuzumuten. So war er verärgert und unangenehm berührt vom Bundestags-Auftritt Wolf Biermanns im November 2014 zum 25. Jahrestag des Mauerfalls, als sich der vom damaligen Parlamentspräsidenten Norbert Lammert (CDU) Eingeladene als „Drachentöter“ gerierte und die Abgeordneten der Linkspartei nach Herzenslust schmähte, was Christ- und Sozialdemokraten sichtlich gefiel und amüsierte. Friedrich Schorlemmer statt Biermann ins Parlament zu laden und um eine Rede zu bitten, erschien offenbar zu riskant. Oder unerwünscht. Man wusste schließlich, dass in diesem Fall mit Kritik am Bundeswehreinsatz in Afghanistan oder den Kriegen der USA im Nahen Osten zu rechnen war.

Ein Gebot des historischen Anstands

Wir telefonierten im Juni 2016 wegen eines Leitartikels zum 75. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion und der beschämenden Weigerung deutscher Politiker wie des Bundespräsidenten Joachim Gauck, in Moskau der 27 Millionen sowjetischen Kriegstoten zu gedenken. Friedrich Schorlemmer war sofort bereit, für uns zu schreiben. Man las in seinem Manuskript: „Tatsächlich wird nicht nur eine Chance zur Entspannung verspielt, sondern auch das Gebot des historischen Anstands verletzt. Eine Geste der Demut wäre angebracht gewesen, zumindest ein Moment des Innehaltens angesichts des unermesslichen Leids, das mit dem 22. Juni 1941 begann. … Die Bundesregierung sollte wissen, was Geschichtsvergessenheit anrichtet … Sie sollte sich erinnern, welche Rolle die Russen bei der Vereinigung 1990 spielten.“

Gewiss, seither ist viel passiert. Umso mehr muss die Frage erlaubt sein, würden dem Autor diese Sätze heute als zu großes, völlig abwegiges „Russland-Verständnis“ angekreidet? Wenn ja, dann weiß man, wie sehr der am vergangenen Wochenende Verstorbene fehlt. Auch dem Freitag.