Gesellschaft, Gewalt, Staat – Blinde Flecken in dieser Gewaltdebatte
Bislang waren es vereinzelte mörderische Attentate. Jetzt wird auch über ein zunehmendes breiteres Spektrum von (politischer) Gewalt berichtet . Auch über einstmals schwer vorstellbare Exzesse in den asozialen Netzwerken. In der ZEIT-Community konnte ich vor Jahren beobachten, wie fast schon psychiatrisch zu bewertende Kampagnen wohlwollend zugelassen wurden, Opfer aber ausgesperrt. In einem Fall dachte ich spontan: das ist Faschismus. Völlig unverständlich war mir, wie es in einem Bereich, der doch ideal für Mitsprache, erweiterte öffentliche Debatten, für mehr Demokratie hätte stehen können, zu so einer Entwicklung ohne jede Gegenwehr – wohl aber mit Rudelbildung von Sympathisanten – kommen konnte.. Es hätte genau das werden können, wovon wir in unserem ersten Medien-Projekt an der Uni geträumt hatten. Nun selbst in der ZEIT eine „Toleranz“ und Regel-Vergessenheit, die zwangsläufig in der Schließung der Community endete, die völlig aus den Fugen war, und mich und andere zum FREITAG trieb.
Es war ein Vorgeschmack auf das, was wir aktuell gesamtgesellschaftlich erleben. Nur, dass aus verbaler physische Gewalt geworden ist. Die Mechanismen aber, die das begünstigt haben, sind immer noch dieselben. In der regellosen Anonymität des Internets zeigen sie sich deutlicher als anderswo. In der Art, wie wir das hilflos beschwätzen, bevor wir kapitulieren, zeigt sich, was gesamtgesellschaftlich schief läuft. Der Ausweitung der Freiheit fehlte die Bindung (Dahrendorf).
Die Psychologin Anne Otto gibt im Freitag einen anderen Hinweis, wie nämlich selbstzensiertes Denken in die sozialpädagogische Sackgasse führt, statt zu einer Lösung: „rufen mich Journalistinnen jedes Mal an, wenn wieder ein Angriff stattgefunden hat, und fragen mich nach der Psychologie des Täters: Wie tickt er? Meine Antwort ist immer die gleiche: Ich kenne den Täter nicht, weiß nicht, was er erlebt hat. Und das muss ich auch gar nicht.. Der Hass ist kollektiv, nicht individuell.“ An Bindung und Regeln kein Gedanke.
Der „kollektive“ Hass hat natürlich unterschiedliche Folgen, sobald er auf unterschiedlich gewordene Persönlichkeitsstrukturen trifft. Zweifeln darf man an der Aussage, wir wüssten genug. Tun wir das wirklich? Oder blenden wir etwas aus, das wir wissen könnten, aber nicht wollen? Haben wir einen blinden Fleck, auf dessen Berührung wir im Zweifel selbst aggressiv reagieren?
Beginnen möchte ich mit einer Anekdote, die es eigentlich schon auf den Punkt bringt. Zu den 68ern stieß ich, als rechte Studenten während eines Uni-Streiks linke Studentinnen tätlich angriffen. Vorgestern war das nicht. Und links war das in meinem Fall auch nicht – obwohl ich natürlich schon wusste, worum es ging. Aber Frauen schlägt man nicht. Niemanden schlägt man.Punkt.
Aber das ist noch nicht der Punkt, auf den ich hinaus will. Ich kam ins Gespräch mit den Kommilitoninnen , und alsbald saß ich in diversen Diskussionszirkeln und einem Faschismus-Seminar – zu dem man wiederum allerlei Literatur lesen sollte. Woher nehmen? Kein Problem, meinte eine der Kommilitoninen.
Also trotteten wir zum naheliegenden größten Buchgeschäft der Stadt, und sie zeigte mir, wo die Bücher zu finden waren. Ok, aber womit sollte ich das bezahlen. Da ich immer noch nicht begriff, schob sie einiges unter ihre Jacke, und als der Bedarf gedeckt war, verließen wir den Laden. Nein, da müsste ich mir keine Gedanken machen. Es würde ja niemand geschädigt. Außer den Kapitalisten. Das motivierte wohl auch jene Kommilitonin, die im Supermarkt das verpackte Fleisch in den Slip schob und vor allem wohl deshalb ungeschoren durch die Kasse kam, weil es der Kassiererin zu peinlich war, zu fragen, woher das Blut kam, das der Studentin am Bein herunterlief.
Worauf ich anekdotisch hinaus will: damals begann ein Erosionsprozess, in dem bewusst Regeln gebrochen wurden (z.B. vormals Kriminelles als Normal umgedeutet wurde), und in dem vormals „geheiligte“ Institutionen – oft zu Recht – infrage gestellt und angegriffen wurden. Höhepunkt die Aktionen der RAF, die zwar etliche rote Linien überschritt, trotzdem scheinbar selbst in solide bürgerlichen Kreisen heimliche und offene Sympathien genoss.
Ich war immer in Sekundenschnelle auf der Palme, wenn rechte Medien jede gesellschaftliche Fehlentwicklung auf die 68er zurückführten. Bei der Entwertung überkommener Regeln kann man das aber schon so sehen. Und wenn Kindern nicht von Anfang an Regeln und Werte vermittelt werden – auch durch das Vorbild von Autoritäten – , dann scheint es mir relativ logisch zu sein, dass später insbesondere Menschen, die solcherlei Krücken brauchen, weil sozusagen die eigene Muskelkraft oder der Gleichgewichtssinn defizitär ausgefallen sind, „aus der Rolle“ fallen.
Erschwerend kommt eine fatale Missdeutung der Summerhill-Erziehung des A.S.Neill hinzu, die andererseits vielleicht auch Wege der Lösung aufzeigt, wenn man sie ohne linken Tunnelblick oder Defizite im Leseverständnis liest, wie sie seit PISA bekannt sind. Was bei Neill nämlich nicht-autoritäre Erziehung INNERHALB DEMOKRATISCH GESETZTER REGELN und Regeln zum Eigenschutz von vorhandenen Autoritäten (z.B. Neill selbst) gedacht war, wurde hierzulande flugs in ANTIAUTORITÄRE Erziehung umgedeutet – und damit in den bereits laufenden, oben beschriebenen, Erosionsprozess eingeordnet , der letztendlich das Ziel hatte, dem staatlichen Leviathan Zähne und Klauen zu ziehen. Vergessen wurde dabei, dass jener Leviathan ja just deswegen geschaffen wurde, weil menschliche Gesellschaften offenbar dazu neigen, dass Menschen schon mal des Menschen Wolf werden, und man deshalb etwas braucht, was davor schützen kann. Schießt man beim Versuch, den Leviathan zu zähmen, übers Ziel hinaus und versucht, ihn zu zerstören, dann braucht man sich nicht über Zustände zu wundern, wie sie derzeit zu beobachten sind. Und auch nicht über autoritäre Entwicklungen. Fallen Gesellschaften wieder in den Wolfs-Modus zurück, ist es wenig verwunderlich, dass Mehrheiten nach starken Führern rufen und vor Anhängern des differenzierten Denkens die Ohren verschließen, sie gar bekämpfen, weil sie Angst davor haben, durch sie ihre letzten Sicherheiten auch noch zu verlieren.
Demokratisch gesetzte Werte und Regeln beruhen nicht zuletzt auf historischen Erfahrungen. Da die 68er diese auf Kapitalismus und Faschismus beschränkten, machte sie einerseits von rechts angreifbar, und führte andererseits zu einer allzu pauschalen Bekämpfung des „Systems“, was zunehmend auch in den Mainstream einsickerte. Man beachte nur, wie Reporter Politiker stalken, weil die ihnen nicht antworten wollen, oder wie ein Markus Lanz ins Wort fällt und mit einer verbalen Stalinorgel über Teilnehmer herfällt, die partout nicht das sagen wollen, was ER gerne hören will. Das sind reale , in ihrer Kleinkindhaftigkeit hängen gebliebene ,Rollenvorbilder, die in den asozialen Medien noch weit übertroffen werden. Auch sie ein Produkt „kultureller“ Freisetzung wenig sozialisierter Verhaltensmuster, wie sie auf 68 folgte.
Was aktuell von manchen als „westliche“ Werte diffamiert wird, ist unter solchen Voraussetzungen fundamental missverstanden – und füttert rechte Ressentiments. Was mir in meiner Ausbildung vordringlich vermittelt wurde, dass wir nämlich nicht in Utopia leben, weshalb man tunlichst immer zwischen beispielsweise Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit unterscheiden müsse, um der GANZEN WIRKLICHKEIT gerecht zu werden, scheint vielen fremd. Auch , weil sie – Beispiel Grundgesetz – nie von der Gesellschaft und ihren Repräsentanten wirklich verinnerlicht wurden. Als Beispiel möchte ich die sogenannte Schuldenbremse nennen, die durchaus gesetzlich geregelt werden kann. Sie aber quasi gleichberechtigt neben den Schutz menschlichen Lebens und menschlicher Würde zu stellen, zeugt für mich von weitgehender politischer Verblödung und einer Banalisierung der Verfassung. Mal abgesehen von der Kleinkariertheit , die nötig ist, um überhaupt erst auf so eine Idee zu kommen. Die Verfassung wird zum Werkzeugkasten für politische „Klempner“ gemacht, die damit Regierungen vom vermeintlichen „Einbruch“ in imaginierte heilige Staatskassen abhalten wollen. Was Wunder, wenn Menschen, die ohnehin nicht so genau wissen, was warum im Grundgesetz und in anderen Gesetzen steht, sich nicht weiter darum scheren und selbst definieren, was sie für Recht und Gesetz halten (z.B. Wann die Ampel rot ist, bestimme ich!)– und wen für einen Gegner desselben. Wie lange dieser Prozess – auch von rechts – schon läuft, mag ein Spruch des ehemaligen Innenministers Höcherl (CSU!!!!!) von 1963 (!!!!!!!) verdeutlichen, seine Beamten könnten nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unterm Arm herumlaufen (genau darauf sind Beamte aber vereidigt – nicht auf unterm Arm, sondern IM KOPF!).
„Verfassungspatriotismus“ stelle ich mir jedenfalls anders vor. Im Gegenteil scheint ein stiller Widerstand in Politik und Verwaltung, dem insbesondere vermeintliche „Linkslastigkeiten“ wie das in homöpathischen Dosen enthaltene Sozialstaatsprinzip sowie allzu großzügige Freiheitsrechte von Anfang an ein Dorn im Auge zu sein schienen.. Aktuell ist es u.a. das Asylrecht. So wurden und werden Staat und Gesellschaft über die Jahre von unterschiedlichen Kräften sturmreif für AfD & Co gemacht, während der tatsächliche Gehalt des Grundgesetzes vielen Bürgern ein geheimnisvolles Unbekanntes geblieben sein dürfte, das mitnichten so etwas wie „Patriotismus“ befeuert. It’s the economy, stupid! Die „Unfähigkeit zu trauern“ in einer „vaterlosen Gesellschaft“, um den Schlagwort-Cocktail noch etwas zu erweitern.
Von dem „Abgrund an Landesverrat“ (Pressefreiheit) eines Kanzlers Adenauer (1962) – der sich einen (Ex-Nazi) Globke hielt – über die späte Gleichstellung nicht ehelich geborener Kinder (1970) bis zur heutigen Migrationspolitik und der aktuellen Forderung nach Kürzung – bzw. Streichung in besonderen Fällen- des verfasssungsgerichtlich grundierten Bürgergeldes zieht sich die politische Verfassungs-Sozialisation der Bürger, die nunmehr zunehmend das praktizieren, was sie auf diese Weise gelernt haben, anstatt z.B. die vor-faschistischen historischen Erfahrungen je kennengelernt zu haben, die AUCH in die Entwicklung der Menschenrechte eingeflossen sind. Und dazu, wie gesagt, die pauschale Verächtlichmachung eines„Systems“ von links, das sicher besser ist als sein Ruf, sonst würden die alle ja nicht ausgerechnet HIER leben wollen….. Hätten sie übrigens nicht gedacht, die Utopisten, dass die Rechten ihr Denken und ihre Methoden auch für sich nutzen würden……
Nun ist es also passiert. Unvermeidlich vielleicht, wenn man wieder bei Neill nachschaut. Kinder, die aus autoritären Strukturen kamen, brauchten in Summerhill eine etwas chaotische Übergangsphase. Je autoritärer, desto länger. Kann man vermuten, dass der Kampf der 68er gegen faschistoide und autoritäre Strukturen – oder die Entwicklungen im ehemaligen Ostblock – so etwas ähnliches in den Gesellschaften ausgelöst haben, und dass wir jetzt realisieren, dass wir neue, demokratisch zustande gekommene Strukturen, Regeln und Werte brauchen, um zu gesellschaftlicher Normalität zu kommen? Nähert sich unser „Chaos“ einem Ende, das hoffentlich nicht wieder in autoritären Staatsformen mündet? Das wäre jetzt zu klären. Eine Abrüstung unseres verbalen und physischen Waffensystems wäre Voraussetzung. Ein funktionierender Sozialstaat und mehr Verantwortlichkeit bei Reichen und Superreichen wären eine Einladung an die Ausgegrenzten. Willy Brandt hatte eine neue Republik versucht. Und nie waren Emigranten und Gegner des Nazi-Sytems näher an der schweigenden Mehrheit. Eine Chance die Gesellschaft endlich mit den Werten des Grundgesetzes zusammen zu bringen. Was aber schrien die Linken? Sozialfaschisten! Und dann der konservativ motivierte Sturz mit freundlicher Unterstützung von DDR und RAF. Danach begann das Ende der SPD und der Allparteien-Weg ins neo-liberale Märchenland, das unter anderem aktuell den Lindner gebar. Die Grünen versuch(t)en den Brandtschen Weg fortzuführen. Daher der gegenwärtige Hass und die Sabotage der FDP. Aber – wenn überhaupt jemand – sind sie – manchmal etwas ungelenke – Verfassungspatrioten.
Womit sich das Stichwort Integration anbietet. Wie soll man sich in eine Gesellschaft integrieren, die selbst, außer einer dumpfen Ahnung, nicht so genau weiß, wer oder was sie ist. Und schon sind wir beim Ruf verunsicherter junger Muslime nach der erträumten Geborgenheit eines Kalifats (Führerstaats).
Also noch einmal :WIR haben zuerst selbst etwas zu klären. Dann klappt es VIELLEICHT auch mit dem Muslim (Ein eigenes Thema). Die Neigung zur Sozialpädagogisierung kann jedenfalls nur Reparaturarbeit hervorbringen, die den Zuständen, Sisyphos gleich, hinterherrennt, ohne je ans Ziel zu kommen.
Nachtrag: Claus Leggewie hat 2008 – und neuerdings darauf zurückgreifend – Ähnliches mit deutlich weiterem Horizont und etwas anderen Gedanken formuliert. Nachzulesen unter https://www.deutschlandfunk.de/auf-wiedervorlage-die-antiautoritaere-erziehung-100.html. Sein letzter Satz:
“ Die Anfälligkeit für Rechsradikalismus beruht also oftmals auf einer konfliktbeladenen Adoleszenzkrise, die nicht auf normale und übliche Weise gelöst werden kann, weil Elternhaus und Schule nicht genügend Aufmerksamkeit geboten und Grenzen gesetzt haben. Es wäre gut, wenn dies bei der Bekämpfung der immer noch akuten rechtsradikalen Gewalt berücksichtigt würde.“
So also könnte es ausgesehen haben, wenn kollektiver „Zeitgeist“ auf problematische Einzelschicksale getroffen ist. Nur: genau dieser Zeitgeist scheint niemanden zu interessieren. Oder, wie bei Leggewie, Aggressionen gegen den Apostata auszulösen Ein blinder Fleck eben. Weil es unangenehm wäre, zuzugeben, dass man bei der Suche nach dem Paradies auf einen Holzweg geraten ist. Was anti-autoritär begann, ist als „Gestalt“ (Perls) noch nicht abgeschlossen.
Falls dies noch nicht ausreicht, mich zu beschimpfen (oder zu beschweigen), kann ich noch eine ultimative konservativ scheinende Provokation hinzufügen. Es war kein Zufall, dass eine Abschaffung der Wehrpflicht (mit dem Recht auf Verweigerung) auch von linker Seite mit Bauchgrimmen verbunden war. Führte sie doch im Prinzip – also ohne Missbrauch der Verweigerung – junge Männer verschiedener Klassen, Herkünfte und Bildungshintergründe zusammen und stellte idealerweise in einer Art politischen Unterrichts ein gemeinsames Verständnis von Staat und Demokratie her. Theoretisch eine Gesamtschule der Nation sozusagen, hätte nicht alter und neuer Militarismus manchmal dazwischen gefunkt. Ich selbst musste beispielsweise zur Strafe für Aufmüpfigkeit wg. Vietnam zusammen mit einem Kollegen über den Leber-Plan referieren. Hätte ich sonst nie zur Kenntnis genommen.
Jahrzehnte nach meinem Wehrdienst stoppte auf meinem Weg zur Schule ein Tanklaster neben mir, und der Fahrer fragte mich, ob ich ihn noch kenne. Tat ich. Es war ein Bauernsohn aus meiner damaligen Gruppe. Er denke oft zurück. Es sei eine gute Zeit gewesen. Mit uns Abiturienten. Und dem Sohn eines Brauerei-Unternehmers. Und dem (schwulen?) Bankangestellten….. Vorbei. Stattdessen allerorten eine Spaltung der Gesellschaft. Und chronische Regelmissachtung und lässiger Umgang mit Gesetz und Recht. Wie bereits gesagt.
Ergänzende Lektüre: