1. September 1939: Der Kampf um die „Polnische Post“ in Danzig
Am 31. August 1939, um 16.20 Uhr, gibt Walther von Brauchitsch als Oberbefehlshaber des deutschen Heeres Order: „Der Kampf gegen Polen ist nach den für ‚Fall Weiß‘ getroffenen Vorbereitungen zu führen mit den Abänderungen, die sich beim Heer durch den inzwischen fast vollendeten Aufmarsch ergeben.“ Im „Marschbefehl“ ist der Angriffszeitpunkt auf den 1. September, 4.30 Uhr festgelegt, wird dann aber auf Wunsch der Luftwaffe auf 4.45 Uhr verschoben. Bereits gegen 13.00 Uhr des gleichen Tages hat Adolf Hitler in der Reichskanzlei die „Weisung Nr. 1 für die Kriegsführung“ erlassen. Darin heißt es, um „eine für Deutschland unerträgliche Lage an seiner Ostgrenze zu beseitigen“, habe er sich „zur gewaltsamen Lösung entschlossen“.
Botschafter Lipski hat nur eine Frage
Um diese „unerträgliche Lage“ vorzuführen, werden in der Nacht vom 31. August zum 1. September bei Geheimoperationen von SD- und SS-Kommandos Scheinangriffe auf den Sender, Gleiwitz, das Zollhaus Hochlinden und das Forsthaus Pitschen an der deutsch-polnischen Grenze in Oberschlesien inszeniert, um sie der polnischen Armee oder Freischärlern anzulasten. Tote an den genannten Orten in polnischen Uniformen sollen das beweisen. Tatsächlich handelt es sich in Hochlinden um ermordete Häftlinge aus dem KZ Oranienburg bei Berlin, deren Gesichter derart entstellt worden sind, dass es keine Identifizierung geben kann. Auf einer Verladerampe am Gebäude des Senders Gleiwitz liegt die Leiche von Franz Honiok aus Hohenlieben im Kreis Gleiwitz, eines Landmaschinenvertreters, dem Sympathien für Polen nachgesagt wurden. Die SD-Führung um Reinhard Heydrich nahm an, dass die örtliche Bevölkerung im Grenzbezirk Oppeln Honiok zutrauen würde, an einem Angriff auf den Sender in polnischem Auftrag beteiligt gewesen zu sein.
Józef Lipski, Polens Botschafter in Berlin, weiß am Mittag des 31. August 1939 noch nichts von diesen „Zwischenfällen“, mit denen Hitler einen Tag später vor dem „Reichstag“ in der Kroll-Oper den deutschen Überfall rechtfertigen wird. Lipski hat Teile des Missionsgebäudes in der Kurfürstenstraße bereits räumen lassen, als er mit dem britischen Botschaftsrat George Ogilvie-Forbes einen seiner letzten Besucher empfängt. Wird Großbritannien Polen militärisch beistehen, sollte es von Deutschland angegriffen werden, will er von seinem Gast wissen. Der zögert und weicht aus. Falls es nicht dazu komme, sei Polen bereit, „to fight und die alone“. Eine Formel, wie sie schon Außenminister Józef Beck vor dem Sejm verwendet hat.
Was sie bedeutet, zeigt auch der 1. September 1939 in Danzig, das bis dahin als „freie Stadt“ oder „Freistaat“ mit deutscher und polnischer Bevölkerung unter Hoheit des Völkerbundes steht. Ab 4.45 Uhr beschießt das deutsche Kriegsschiff „Schleswig-Holstein“ das polnische Munitionsdepot auf der Halbinsel Westerplatte vor Danzig. Wenig später wird versucht, die Polnische Post im Zentrum von Danzig zu stürmen, was zunächst scheitert. In einem ungleichen Kampf verteidigen sich die Mitarbeiter der Post viele Stunden.
Heute erinnern in der Stadt an diesen Widerstand der Ehre, dieses „fight und die alone“ das Museum für Post- und Fernmeldewesen, dazu ein Denkmal aus dem Jahr 1979, bestehend aus einem Monument nach Entwürfen von Wincenty Kucma und einem Epitaph nach Plänen von Maria und Zygfryd Korpalski. Zu sehen sind verwundete Postbeamte, ringsherum liegen verstreut Briefe und Pakete. Der Verteidiger reicht der Siegesgöttin Nike ein Maschinengewehr. Oder reicht sie es ihm, auf dass er seinen Kampf nie aufgibt, auch als er aufgeben muss?
Abschied I – Leonard Wizsniewski
Leonard Wizsniewski (*) verlässt am 31. August 1939 bereits gegen fünf Uhr morgens seine Familie in der Weidengasse 15. Im Treppenhaus ist es noch still um diese Zeit, nur eine magere Katze beobachtet ihn misstrauisch, es riecht nach faulenden Abfällen, alten Möbeln und Urin. Auf dem Treppenabsatz vor Wizsniewskis Wohnung verfällt auf drei Rädern stehend der alte Kinderwagen, der einmal für den jetzt fünfjährigen Sohn Marek erstanden wurde. Ein Umzug in den Danziger Stadtteil Langfuhr, die bessere Gegend im Norden, davon hat Wizsniewski immer geträumt, aber ein solcher Ortswechsel ist für einen Angestellten der Polnischen Post im Spätsommer 1939 abwegiger denn je. Das gutbürgerliche Langfuhr wird nahezu ausschließlich von Deutschen bewohnt, die Heim-ins-Reich-Hysterie in der „freien Stadt“ mit ihrer gewaltigen Backsteingotik kocht gerade über. Gauleiter Albert Forster ist vor einer Woche auf dem Berghof zum »Staatsoberhaupt von Danzig« ernannt worden. »Adolf Hitler ist unser Führer. Seine Befehle sind uns seit Jahren genauso heilig, wie den 80 Millionen im Großdeutschen Reich«, steht am 23. August im »Danziger Vorboten«. Gewitterschwüle Morgenluft schlägt Wizsniewski auf der Weidengasse entgegen, nur ein paar Minuten zu Fuß sind es bis zum Heveliusplatz – dort steht die Polnische Post.
Polnischer Korridor
Der Versailler Vertrag von 1919 hat der ehemaligen Hauptstadt der Provinz Westpreußen seit 1920 den Status eines „Freistaates“ verliehen, beschirmt vom Patronat des Völkerbundes, der seine Verantwortung durch einen Hohen Kommissar wahrnehmen lässt. Als der polnische Staat 1918 eine Wiederauferstehung erlebt, soll die „Internationalisierung“ Danzigs einen Zugang zur Ostsee garantieren, aber auch den wirtschaftlichen Stoffwechsel mit dem polnischen Umland fördern. Erscheint schon diese Vorstellung angesichts einer zu 90 Prozent deutschen Bevölkerung konfliktträchtig, ist es die Regelung, Ostpreußen durch einen „Polnischen Korridor“ (oder „Weichselkorridor“) vom Deutschen Reich zu trennen, erst recht. Die „Heim ins Reich“-Parole grassiert flächendeckend lange bevor sie Hitlers Statthalter Albert Forster bei jeder sich bietenden Gelegenheit in der Langgasse oder der Waldoper von Sopot zu intonieren pflegt.
Die 18 „polnischen Einrichtungen“ Danzigs reichen nach 1920 von einem Generalkonsulat, über ein Polytechnikum bis hin zur Polnischen Post und besagtem Munitionsdepot auf der Westerplatte. Der Post ist die Rechtshoheit über den Postverkehr zwischen der Stadt und dem polnischen Staat übertragen, doch gilt sie nicht als exterritoriales Gelände (einer diplomatischen Mission vergleichbar) – Schutz verheißt allein die Präsenz des Hohen Völkerbundkommissars in Danzig.
An diesem 31. August 1939, als Leonard Wizsniewski seinen Arbeitsplatz entgegentrabt, ist das noch für 24 Stunden der Schweizer Diplomat Carl Jacob Burckhardt, dem Gauleiter Forster gerade ausrichten lässt, aus „Sicherheitsgründen“ sei es angeraten, der Stadt möglichst schnell den Rücken zu kehren. Mit dem Auszug des Hohen Kommissars kapituliert der Völkerbund noch vor dem ersten Schuss. Auch deshalb muss Polen, muss die Polnische Post mitten in Danzig „to fight und die alone“.
Anfang April 1939 hat sich dort Konrad Guderski aus Warschau als „Inspektor für den Paketdienst“ vorgestellt – der Armeehauptmann soll keinen Schalterdienst verrichten, sondern die Verteidigung des Gebäudes im Falle eines deutschen Angriffs vorbereiten. Konrad lässt im Keller Waffen und Munition einlagern (vorzugsweise Maschinengewehre und Granaten, kaum Karabiner) und den zugemauerten Durchgang zum benachbarten Polizeirevier zusätzlich mit Holzbohlen verbarrikadieren. Über seinen militärischen Auftrag informiert Guderski zunächst nur den Postdirektor Jan Michón: Sollten die Deutschen versuchen, das Gebäude einzunehmen, muss es unter allen Umständen gehalten werden, bis Entsatz eintrifft – Entsatz durch die 1. Armee von General Bortnowski, der im Süden von Danzig steht. Am 31. August 1939 allerdings ist diese Planung nur noch Makulatur. Die Regierung in Warschau verfügt die Generalmobilmachung, wodurch Bortnowskis Pomerellen-Armee umgruppiert und der Verteidigungsauftrag für die polnischen Einrichtungen in Danzig kassiert wird. Am Heveliusplatz erfährt man davon nichts mehr. Noch bevor das erste deutsche Geschütz auf die Polnische Post feuert, ist der erbitterte Abwehrkampf für die Verteidiger zwar ehrenhaft, aber aussichtslos
Abschied II – Leonard Wizsniewski
Leonard Wizsniewski kann die Post am 31. August 1939 nach Dienstschluss nicht verlassen, Direktor Michón hat Bereitschaft für die gesamte Tagesschicht verfügt, Waffen werden ausgegeben, Wizsniewski sitzt hinter einem leichten Maschinengewehr im ersten Stock. Längst ist alles in ihm zusammengestürzt, er hätte sich von seiner Frau und den beiden Söhnen noch einmal verabschieden sollen, nun ist es zu spät und das Leben aus der Verankerung gerissen, kein Halten in Sicht. Seit 3.30 Uhr an diesem 1. September 1939 sind sämtliche Verbindungen mit Warschau gekappt, die Telefone schweigen, auch Strom gibt es nicht mehr. Von draußen werden der Festung die Zugbrücken hochgezogen. Wizsniewskis Fingerknöchel sind weiß, als er seine Hände um die beiden Haltegriffe des Maschinengewehrs legt. Freies Schussfeld und gute Sicht, sobald der Morgen graut.
Benzin in die Kellerräume
Kurz nach fünf Uhr krachen die ersten Salven. Zwei Stoßtrupps der Danziger Schutzpolizei gehen vor, das Postgebäude soll von seinem rechten Seitenflügel her aufgerollt werden. Heftiges MG-Feuer schlägt den Angreifern entgegen. Die Polizisten sind überrascht von der Wucht der polnischen Abwehr. Dieses erste Gefecht dauert nur einige Minuten, dann zieht sich das Kommando wieder zurück, zwei der Angreifer sind tödlich getroffen, es gibt außerdem fünf Schwerverletzte. Der Polizeiabteilung wird klar, dass ein Sturmangriff nur unter erheblichen Opfern zur Einnahme des Gebäudes führen kann. Erst jetzt wird damit begonnen, die Häuser rings um den Heveliusplatz, in der Rittergasse und am Altstädter Graben zu evakuieren. Dazu kann eine Kampfpause genutzt werden, in der den Postverteidigern über einen Lautsprecherwagen mitgeteilt wird, sie hätten sich bis spätestens neun Uhr zu ergeben, ansonsten werde Artillerie eingesetzt.
Zeitgleich übernimmt die „Gruppe General Eberhardt“ aus der 3. Armee die Leitung der Operation. Eine Zäsur im Kampf um die Post, denn mit dem folgenden Einsatz von Wehrmacht und SS-Heimwehr wird nach der späteren Lesart eines deutschen Kriegsgerichts der Widerstand der Polnischen Post zur „Partisanenaktion gegen reguläre Truppen“. Kurz nach 9.00 Uhr feuern zwei Feldhaubitzen auf das Portal der Post – eine mächtige Rauchsäule steigt empor. Wieder wird ein Ultimatum gestellt, wieder verstreicht es, wieder tritt eine Kampfpause ein, diesmal zwischen elf und zwölf Uhr mittags. Sie endet, nachdem das Glockengeläut der Marienkirche über den Platz gezogen ist. Ein weiterer Sturmangriff bleibt erneut stecken. Noch einmal Trommelfeuer kurz nach 17 Uhr. Die drinnen können sich nur noch im dritten Stock des Gebäudes halten und liegen in Deckung, als ein Tankwagen heranfährt, blitzschnell Benzin in die Kellerräume der Post pumpt, die sofort in Brand geschossen werden.
Abschied III – Leonard Wizsniewski
Wizsniewski hat auf der Flucht in den dritten Stock den toten Hauptmann Guderski vor dem Paketraum liegen sehen, er hastet die Treppe hinauf, an der Wand Deckung suchend, längst sind auch die Wasserleitungen zerschossen, die Füße streicheln Briefmatsch auf gefliestem Korridorboden, Briefmatsch überall, Papierschlamm, Lebensschleim, darin können ja Ratten ersaufen, nur jetzt noch nicht untergehen, nicht vor aller Augen auf der Weidengasse untergehen, mit dem Tod fremd gehen. Wizsniewski hört seine eigene Stimme, ein dünnes klagendes Wimmern, die Post halten, bis Entsatz kommt, bis Bortnowski, bis die Pomerellen-Armee kommt und alles niederwalzt. Und uns alle rettet. So heiß und schön war ein Danziger Spätsommer nie. Eine Feuerwand schießt im Treppenhaus empor, zerreißt die Luft, so glühend heiß war ein Danziger Spätsommer nie…
Exekution am Friedhof Saspe
Durch die Benzinexplosion in der Post sterben acht Menschen, die Überlebenden kapitulieren und verlassen mit erhobenen Händen das Gebäude, angeführt von Direktor Michón, der ein weißes Taschentuch über den Kopf hält und von der SS-Heimwehr im Posthof sofort erschossen wird. Die anderen Postverteidiger kommen in die Danziger Viktoria-Schule – seit 24 Stunden Sammellager der Gestapo für verhaftete Polen – oder werden, sofern sie verwundet sind, in ein Militärlazarett eingeliefert und bewacht. Bereits eine Woche später, am 8. September 1939, stehen 28 Postler vor dem Feldkriegsgericht der 3. Armee, die restlichen zehn sind noch nicht verhandlungsfähig. Gegen 20.00 Uhr, nach kurzer Verhandlung, verhängt Kriegsgerichtsrat Kurt Bode 28-mal die Todesstrafe. Der Heveliusplatz habe – so die Begründung – wie die gesamte Stadt Danzig am 1. September im Operationsgebiet der 3. Armee gelegen, Widerstand paramilitärischer Formationen erfülle daher den Tatbestand der „Freischärlerei“ und verlange die Höchststrafe. Dass es nie eine offizielle Kriegserklärung des Deutschen Reiches an den polnischen Staat gab, wird nicht erwähnt. Der zweite Prozess gegen die restlichen zehn Postverteidiger endet am 29. September 1939 mit dem gleichen Urteil. Die Erschießung durch ein Exekutionskommando der Wehrmacht findet am Morgen des 5. Oktober 1939 in der Nähe des Friedhofs von Saspe statt, im Norden von Langfuhr. Leonard Wizsniewski ist nicht unter den Hingerichteten, er ist in der Post verbrannt.
(*) Name fiktiv