Zwölftonmusik und Max Czolleks gelber Regenhut

„Was ist das für ein arroganter Glaube, dass man denkt, man käme so billig davon?“ Das war so einer der Sätze, die an dem Musikabend Ein Ermordeter aus Warschau beim Kunstfest Weimar eine dröhnende Resonanz in der Gegenwart erzeugten. Die Uraufführung der Überschreibung von Arnold Schönbergs Musikstück Ein Überlebender aus Warschau fand am Vorabend der Wahlen in Thüringen und Sachsen statt. Seither wissen wir: Nein, billig sind wir tatsächlich nicht davongekommen, auch wenn noch nicht klar ist, wie hoch der Preis sein wird, den die Gesellschaft und dieses Land für den Wahlsieg der Rechtsextremen tatsächlich zahlen werden.

Das 1947 von Schönberg komponierte Stück gilt als eine der wichtigsten musikalischen Auseinandersetzungen mit dem Holocaust, ist gar zum Schulstoff geworden. In Deutschland gehört es damit in das Repertoire der so beliebten ästhetisierten und ritualisierten Erinnerungskultur, die zu dem regelrecht magischen Denken geführt hat, dass die vorbildliche Anzahl der Erinnerungs-Stelen und niedergelegten Kränze schon dafür sorgen wird, dass die faschistischen Geister der Vergangenheit aus dem Land hinausgewedelt werden.

Dieser Musikabend versucht nun, die Statik eines solchen Werkcharakters aufzubrechen, und hinterfragt künstlerisch klug sowohl die Bedingungen von Erinnerung als auch ihre gesellschaftliche Instrumentalisierung.

In der Inszenierung von Sven Holm beginnt alles als Neuverhandlung, als offene Probe in einem Bühnenset aus Scheinwerfern, Leinwänden und silbernen Blitzschirmen, wie man sie aus Fotostudios kennt. Das ergibt Sinn, weil man sich die Funktionsweise von Erinnerung auch als eine fotografische Dunkelkammer vorstellen kann, in der vergangene Ereignisse selektiv hervortreten. Dinge werden in Dunkel getaucht, mit Kontrastmittel versehen, in grelles Licht gesetzt, überblendet, doppelt belichtet oder auch für immer vernichtet. Die unscheinbar wirkenden Anfangsszenen von probenden Musiker:innen und Sängerinnen verhandeln zum Beispiel die Grenzen der Sprache, die traumatische Erfahrung kaum vermitteln kann.

Max Czollek schenkt den Ermordeten Gehör

Auftakt für die Neukomposition von Michael Wertmüller ist dann eine intervenierende Rede des Autors Max Czollek, der auch das Libretto schrieb. Die Toten nicht sterben zu lassen, sie nicht zu vergessen, macht den Kern seiner Rede aus, in der er die Literatur als den Ort ausmacht, an dem die Ermordeten eben nicht tot sind, sondern in dem sie Sprache verliehen bekommen. Mit seinem gelben Regenhut erinnert er dabei an den Fährmann Charon, der auf dem mythologischen Fluss Styx, der das Reich der Lebenden von den Toten trennt, die verstorbenen Seelen hinüberträgt. Warum ist es so, dass wir nur denen Gehör schenken, die Überlebende sind? „Und was, wenn wir so angefangen haben mit den Lebenden, weil wir die Geschichten der Toten nicht ertragen hätten.“

Was die Ermordeten zu sagen haben, ist dann von dem fantastischen Orchesterensemble Novoflot zu hören: absoluter Krach aus dem Jenseits, der musikalisch Wut und Zorn entfacht, Todesschreie hören lässt, plötzlich in eine Stille stürzt, um dann gnadenlos weiterzutoben. Dazu die bewegenden gesungenen und an die Leinwand projizierten Texte von Max Czollek. Poetische Strategie ist hier, die Erfahrungen der Ermordeten in das kulturelle Erbe Deutschlands reinzuschreiben. Der Mond geht in Deutschland nicht mehr unschuldig auf: in einem Land, in dem der „weiße Nebel wunderbar“ für immer an den Rauch aus den KZ-Schornsteinen erinnert; in dem der Wald nicht mehr „schweiget“, sondern „schreiet“.

So hatte an diesem Abend alles Größe – vor allem an diesem Ort, in Weimar, denn es kommt ja nicht alle Tage vor, dass Kunst das politische Geschehen derart präzise kommentiert.

Doch damit endet die Geschichte noch nicht. Was die Inszenierung künstlerisch artikulierte, wurde später in der Nacht von der Realität eingeholt. Im Anschluss an die Aufführung bekam ich Gelegenheit, mich dem künstlerischen Team anzuschließen. Wir wollten in Weimar einen Ort finden, an dem die Gruppe – renommierte Künstler:innen aus Griechenland, Italien, Dänemark und anderen Ländern – noch ein wenig beisammensitzen konnte. Nachdem wir bereits einen Biergarten verlassen mussten, weil ein Musiker das unbeschreibliche Verbrechen begangen hatte, eine Bierflasche aus einem anderen Lokal mit in den Garten hineinzunehmen – „Die Flasche muss raus und du gleich mit!“ hatte der deutsche Kulturkellner geblafft – ließen wir uns vor Goethes Haus am Frauenplan draußen in einer Bar nieder.

Es dauerte nicht lange, da kam aus dem Nichts ein breitbeinig laufender Nazi des Wegs, der seine Gesinnung stolz mit der T-Shirt-Aufschrift „The White Race“ zur Schau trug. Sogleich hatte er sich über einen von uns gebeugt und raunte ihm etwas ins Ohr. Bevor jemand verstand, was passiert war, verschwand er in der feiernden Menge auf dem Platz. Wir erfuhren, dass er „Heil Hitler“ gesagt hatte. Wir wanderten erneut weiter. Versuchten den Schock mit Witzen zu überspielen. Liefen durch die leerer werdenden Gassen in der Stadt der Dichter und Denker. Eine unbeschreibliche Beklemmung machte sich in mir breit, als ich auf einmal fühlte, dass wirklich noch gar nichts vorüber war. Was für ein arroganter Glaube, dachte ich, zu denken wir kämen so billig davon.

Theatertagebuch

Eva Marburg studierte Theater- und Literaturwissenschaften in Berlin und New York. Nach Arbeiten als freie Dramaturgin und Autorin am Theater, studierte sie Kulturjournalismus an der UdK in Berlin und ist seit 2018 Fachredakteurin für Theater bei SWR2. Für den Freitag schreibt sie regelmäßig das Theatertagebuch.