Zwischen Revolution und Erinnerung: Farahnaz Sharifi dokumentiert den Iran
Aus dem grobkörnigen, ungegenständlichen Flackern eines Super-8-Filmstreifens kommt ein Bild zur Welt: Im Krankenhausbett hält eine Mutter ihr neugeborenes Kind. Die Aufnahme zittert und wackelt, der Bildstand ist fragil. „Heute ist der 8. März 1979“, kommentiert eine weibliche Erzählerstimme den festgehaltenen Augenblick ihrer eigenen Geburt. Neben der privaten Komponente markiert jener Zeitpunkt für sie auch zwei gesellschaftspolitische Dimensionen: den seit 1921 an diesem Datum gefeierten Internationalen Frauentag und zugleich das Jahr der Islamischen Revolution im Iran. Dort hat die Regisseurin, Autorin und Editorin Farahnaz Sharifi Film studiert und ist, im Gegensatz zu vielen anderen, geblieben – bis es im Jahr 2022 kein Zurück mehr für sie gab. Die Spuren derer, die gegangen sind, und die Welt, die mit ihnen verloren ging, bilden das Gravitationszentrum ihres autobiografisch gerahmten Filmessays.
Eine Schwarz-Weiß-Fotografie kommt in den Blick, aufgenommen am Weltfrauentag in Teheran, kurz nach der Rückkehr von Ajatollah Chomeini. Die Straßen sind gefüllt mit einem Meer aus Demonstrantinnen, auf ihren Schildern steht geschrieben: „Freiheit für die Frauen heißt Freiheit für die Gesellschaft“. Mit offenem Haar und zum Himmel gereckter Faust wehren sie sich gegen die Einführung der Hidschab-Pflicht. 43 Jahre trennt diese Szene von den Protesten unter dem Slogan „Frau, Leben, Freiheit“, welche dem gewaltsamen Tod der Kurdin Jina Mahsa Amini durch die iranische Sittenpolizei folgten. Das Aufwachsen einer ganzen Generation wird überschattet von klerikal-patriarchaler Gewalt, die durch das Kopftuch die Geschlechter wie auch den öffentlichen vom privaten Raum segregiert und letzteren den Frauen zuweist. Für die Filmemacherin Sharifi fühlt sich diese Spaltung an wie ein Leben auf zwei verschiedenen Planeten. Die Möglichkeit, ein Selbstgefühl zu entwickeln, gibt es nur im eigenen Zuhause, das durch die strikte öffentliche Ordnung zugleich wie ein Gefängnis funktioniert. Aus diesem höchst ambivalenten Erleben heraus entwickelt Sharifi die Dramaturgie ihrer filmischen Erzählung.
Neue Möglichkeiten, eine Beziehung zu sich und zur Welt zu entwickeln, ergeben sich für sie durch das Aufzeichnen und Archivieren von Bildern. Fotografien aus der Zeit vor der Revolution werden zu wichtigen Fixpunkten der Erinnerung an eine andere Lebensrealität, Porträts von ermordeten Regimegegnerinnen ermöglichen ein kontinuierliches Denken des Widerstands. Mit dem Aufkommen des Smartphones kommt dagegen eine neue Ebene ins Spiel, die auch politische Konsequenzen verspricht: Proteste können gegen den Willen der Machthaber bezeugt und medial verbreitet werden, das eigene Leben scheint in der Selbstdokumentation unmittelbar an Kontur zu gewinnen. Für Sharifi, die zuvor stets mit den Kameras der anderen arbeiten musste, entsteht durch den Besitz des eigenen Aufzeichnungsgeräts eine regelrechte Sucht, jeden Moment ihres Alltags zu dokumentieren. Während ihre Mutter durch eine Demenzerkrankung zunehmend das Gedächtnis verliert, versucht die Filmemacherin immer zwanghafter, eigene und fremde Erinnerungen medial festzuhalten. In einem Fotogeschäft kauft sie bei einem Händler aufgefundenes Super-8-Material, dessen unbekannte Urheber vor Jahrzehnten ihres Besitzes sowie ihres medialen Gedächtnisses enteignet wurden. Das Scannen und Digitalisieren der Filmstreifen wird zu einem Versuch der kulturellen Restitution.
Offensichtlich ist Sharifis filmischer Essay eine Dokumentation persönlichen Widerstands gegen das iranische Regime und damit von politischer Relevanz. Hintergründig stellen sich durch die Omnipräsenz der Smartphone-Bilder jedoch Fragen nach der Rolle von ästhetischen Verfahren in der filmischen Vermittlung von Autobiografie und kollektiver Geschichte. Ihr Versprechen nach Unmittelbarkeit löst sich auf der Ebene der Affekte zwar ein, doch daraus entsteht nicht immer zwangsläufig auch ein Erkenntnisgewinn. Das kontinuierliche Mitschneiden der Alltagsvollzüge ohne konzeptuelle Montagearbeit läuft Gefahr, unfokussiert und banal zu geraten, Aufzeichnungen von ermordeten Demonstrierenden wiederum sind zwar forensisch relevant, zerstören aber in ihrer Intensität Möglichkeiten des Nachdenkens über politische Gewalt.
Die Auseinandersetzung mit dem aufgefundenen Filmmaterial böte auch über das bloße Bewahren und Präsentieren hinaus die Chance, durch künstlerische Verfahrensweisen neue Beziehungen zum Verlorenen herzustellen, wie sich durch die Geschichte des „Found Footage“-Films nachvollziehen lässt. In Sharifis Film gibt es Momente, in denen die Deformation des aufgefundenen Materials den Einstieg in ein Changieren zwischen Fremdheit und Vertrautheit, Ruinen des Vergangenen und schwachem Versprechen einer Zukunft ermöglichen. Doch der Fokus des Filmessays schwenkt meist zurück auf das im Bild Dargestellte, die bloße Repräsentation.
Immer wieder kommen Aufnahmen von tanzenden Menschen in den Blick, die zum Symbol des Widerstands gegen das Regime gerinnen. Ihre augenblickliche Schönheit berührt, lässt aber auch viele Fragen nach politischen Zusammenhängen offen. Nach einer gemeinsam besuchten Demonstration filmt Sharifi ihre Freundinnen bei einem Gespräch über die Aussichtslosigkeit der Lage, die sich trotz globaler Solidarität nicht verbessert. Das, was Hoffnung gebe, sei die Kraft des Schönen: die gemeinsam angeschauten Filme und Gemälde, vertraute Straßenzüge und geliebte Menschen – mit anderen Worten: die sinnliche und intellektuelle Teilhabe am kulturellen Raum. Was es bedeutet, um diese Beziehung ringen zu müssen, demonstriert Sharifi eindringlich in statischen Einstellungen, die ihren Film immer wieder punktieren: Sie zeigen den Blick aus dem Fenster der eigenen Wohnung in den öffentlichen Raum, im Begehren einen Übergang zwischen innen und außen zu schaffen.
My Stolen Planet Farahnaz Sharifi Deutschland/Iran 2024, 82 Minuten