Zukunftssozioökonomie – Das fällige neue System von Wirtschaft und Gesellschaft

Ich veröffentliche hier einen Text vom Mai 2002 noch einmal, weil er aktuell geblieben ist (im Anschluss dazu einige Bemerkungen und Literaturhinweise):

— „Das fällige neue System von Wirtschaft und Gesellschaft

Seit dem Zusammenbruch des Sozialismus 1989 wurde die Welt weitgehend von der Idee beherrscht, dass das Wirtschaftssystem sich als ein freier Wettkampf um möglichst viel Geld selbst organisieren sollte. Es gibt zwar viel Kritik an diesem System, aber bisher ist keine Alternative dazu bekannt geworden.

Dabei ist es sehr naheliegend, erstens anstelle des Erwerbs von Geld die Befriedigung der Bedürfnisse als das eigentliche Ziel eines Menschen zu verstehen. Zweitens ergibt sich bei näherer Betrachtung, dass Säugetiere zwei Kategorien von Bedürfnissen haben, nämlich die organischen Grundbedürfnisse und die höheren Bedürfnisse, wobei die letzteren beim Menschen auch die produktiven Bedürfnisse genannt werden. Das heißt, es gibt eine Art Trieb zur Arbeit, den wir systematisch nutzen können, um alle für ein angenehmes und interessantes Leben nötigen Leistungen selber schon als befriedigende Tätigkeit zu gestalten. Das wäre zudem der „gesunde“, „naturgemäße“ Arbeitsstil des Menschen. Kern des fälligen neuen Wirtschaftssystems wäre also statt „Arbeit als Wettkampf um möglichst viel Geld“: „Arbeit als Befriedigung der produktiven Bedürfnisse“.

Das neue System kann als eine kooperative und zielbewusste Marktwirtschaft bezeichnet werden. Zwischen den Menschen selber würde keine Konkurrenz mehr stattfinden, aber ihre Produkte und Verfahrensweisen würden von ihnen gemeinsam einer natürlichen Selektion auf Märkten ausgesetzt. Das würde bedeuten, dass die Menschen bewusst natürliche Evolutionsstrategien nutzen in der Entwicklung ihrer Kultur und ihrer Technik. In der kooperativen Marktwirtschaft würde weiterhin Geld benutzt. Geld ist ein abstrakter Wert, und es wird auch in Zukunft erstrebenswert sein, viel davon zu besitzen. Überhaupt wird es Privatbesitz, auch an „Produktionsmitteln“, weiterhin geben und auch hier wird weiterhin die Erhaltung und Vergrößerung von Besitz als erstrebenswert gelten und gesellschaftlich akzeptiert sein. Und wie schon bei Adam Smith wird die Arbeitsteilung als die Quelle des menschlichen Wohlstands angesehen, wobei man die Bedeutung von Wissenschaft und Technik heute dabei sicherlich höher bewertet als damals.

Das radikal Neue bei alldem wird sein, dass die Menschen sich nicht mehr gegenseitig bekämpfen, also auch nicht mehr um ihren Besitz. Stattdessen dürfte eine neuartige Großzügigkeit in der Verteilung der Besitztümer praktiziert werden. Das ist möglich, weil das Produzieren des Reichtums selber schon als Teil eines reichen und glücklichen Lebens organisiert werden kann.

Die Revolution, die uns in die neue Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft bringt, wird einerseits die friedlichste soziale Umwälzung, die es jemals in der Geschichte unserer biologischen Art gegeben hat. Es wird deshalb weder einen Regierungswechsel geben noch wird jemand deshalb seines Amtes enthoben oder gar enteignet. Das System bleibt eine Marktwirtschaft und erfordert keinen abrupten Wechsel der Methoden. Andererseits wird es auch die bisher tiefgreifendste soziale Veränderung, nämlich der Schritt von den vormenschlichen sozialen Organisationen mit ihren Rivalitäten, Hierarchien und gewaltsamen Konfliktlösungen zu der spezifisch menschlichen Organisation des Zusammenlebens, einem globalen Netzwerk von gleichberechtigten Personen. Die eigentliche Revolution wird im Denken stattfinden. Die Menschen werden ihren gewohnten Alltag fortsetzen und dabei gemeinsam darüber nachdenken, wofür sie eigentlich leben wollen, und sie werden dabei gemeinsam zu der revolutionierenden Erkenntnis kommen, dass ihre Interessen vollkommen miteinander und mit der Erhaltung unserer irdischen Lebensgrundlagen vereinbar sind.

Die Umwälzung wird im folgenden bestehen: Bisher mussten die Menschen sich einer vormenschlichen Ordnung von Gesellschaft anpassen und unterordnen, aber demnächst werden sie sich ihrer selbst und ihrer Ziele besser bewusst und werden dann gemeinsam die Gestaltung der Gesellschaft ihren eigenen, spezifisch menschlichen vitalen Interessen unterordnen.

Der Grund für diese Umwälzung ist, dass der Entwicklungsstand der Technik eine Fortsetzung der gegenseitigen Bekämpfung von Menschen unmöglich macht, weil unsere biologische Art damit sich selbst und ihre Lebensgrundlage zerstören würde. Andererseits erübrigt sich aber auch durch diese fortgeschrittene Technik der Konkurrenzkampf als zusätzlicher „Motor“ der Entwicklung. Das bedeutet keineswegs, dass in Zukunft keine menschlichen Höchstleistungen mehr zu erwarten wären. Es ist nur die wirklich unangenehme Arbeit, von der wir uns dank Wissenschaft und Technik verabschieden werden. Zu künstlerischen, wissenschaftlichen oder sonstigen Spitzenleistungen dürfte es uns aus reiner Lust an solchen Leistungen gerade in einer kooperativen Gesellschaft treiben, weil wir uns dann ungestört durch Konkurrenzdruck, Neid oder Misstrauen unseren jeweiligen Leidenschaften widmen können. Bei den Voraussetzungen der Revolution ist sicherlich nicht entscheidend, dass die Technik uns Arbeit abnehmen kann, sondern dass der Entwicklungsstand der Wissenschaft uns heute die entsprechenden Erkenntnisse über unsere eigene Natur ermöglicht und dass die Kommunikationstechnik uns den nötigen weltweiten Gedankenaustausch in diesem Zusammenhang ermöglicht.

Der Fehler aller bisherigen Gesellschaftssysteme ist aus Sicht der modernen technischen Zivilisation, dass sie das gewaltsame Übergehen der Interessen anderer Menschen zur Tugend erhoben haben. Denn ein Mensch ist wahrscheinlich von Natur aus nicht fähig, eine Niederlage wirklich zu ertragen und muss, wenn sie ihm aufgezwungen wird, entweder gegen sich selbst oder gegen sein Umfeld aggressiv und destruktiv werden, und er müsste mit der modernen Technik schließlich die Zivilisation zerstören, die zudem immer empfindlicher gegen absichtliche Angriffe wird. So ist heute die Auffassung, dass der Konkurrenzkampf der natürliche Antrieb von allen Entwicklungen in der Gesellschaft sei, die Ursache der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen. Denn der Konkurrenzkampf hetzt zu einseitigen Hyperaktivitäten auf, die rücksichtslos sind gegen die Umwelt, und er schafft Verlierer, die keine Verantwortung mehr für unsere Welt tragen können, weil ihre Kräfte gebunden sind im Sinnen auf Rache oder in anderen destruktiven Bestrebungen.

Freilich sind Konflikte und Situationen, die als Niederlage empfunden werden, im Leben unvermeidlich, aber sie können immer wieder aufgelöst werden, wenn die „Triebe zum Sieg“ oder die „Aggressionstriebe“, die wir als Säugetiere sicherlich in irgendeiner Weise haben und die zu den produktiven Bedürfnissen zählen, auf eine menschlich intelligente Weise abstrakt empfunden werden, etwa als der Antrieb, ein Problem zu besiegen. Solche Siege über Hindernisse im Leben, die vielleicht wie zusammenhängende Wesen in unserer komplexen lebendigen Welt empfunden werden, können immer als gemeinsame Siege gefeiert werden und wir als Menschen mit unseren intellektuellen Fähigkeiten brauchen dazu keineswegs die konkret erlebbare Niederlage eines Artgenossen.

Deshalb können wir in der gemeinsamen Ausrichtung auf das Ziel, eine weltweite Wohlstandsgesellschaft zu schaffen, eine neue, vollkommen kooperative und freundliche Organisation unseres Verhaltens erlernen. Die Entscheidung dazu dürfte in der Menschheitsentwicklung ziemlich plötzlich fallen, indem die Einsicht, dass das im Prinzip möglich wäre, auf einmal die meisten Menschen in Begeisterung versetzt. Ein solcher weltweiter Umbruch wäre durch moderne Kommunikationstechnik möglich, und wahrscheinlich werden Diskussionen im Fernsehen die entscheidenden Überlegungen bei der Allgemeinheit auslösen.

Eine solche öffentliche Debatte muss sich im Verborgenen vorbereiten, weil alle Ideen die in diese Richtung gehen, zunächst überall ganz und gar abgewiesen werden, denn die bisherigen Denkweisen sind Ausdruck eines Zwiespalts zwischen freundlichen und feindlichen Gefühlen gegenüber anderen Menschen und dieser Zwiespalt wird mit einer Gewalt verteidigt, die Ausdruck einer Angst vor dem Weiterdenken ist. Man schreckt vor dem Weiterdenken zurück, da es in eine Situation führen könnte, der man sich nicht gewachsen fühlt. Zum Beispiel herrscht Angst davor, durch eine freundliche Einstellung gegenüber anderen schutzlos zu werden. Oder der Gedanke an ein allgemeines Ende des Konkurrenzkampfes bedeutet die Schreckensvision, dass alle Kräfte erlahmen, weil man den Antrieb zur Arbeit, der sich aus der Faszination der Sache ergibt, noch nicht frei erleben konnte.

So begegnet die Idee von der kooperativen Marktwirtschaft regelmäßig überall einer Übermacht von Gegenmeinungen. Sie berührt heute alle wunden Punkte, die sich aus früheren Misserfolgen und Niederlagen ergeben und spricht die verdrängten Wünsche und Sehnsüchte an, die dabei unerfüllt geblieben sind. Denn das neue System setzt das alles wieder auf die Tagesordnung, da es die Menschen befähigt, sich alle wichtigen Träume im Leben zu erfüllen, eben durch eine zielbewusste friedliche Koordination aller Interessen. So ist es bereits das Ergebnis jahrelanger Bemühungen, wenn es gelingt, keine gar zu irrationalen Abwehrreaktionen mehr zu provozieren, sondern eher eine gesunde Skepsis, die eine sachliche Diskussion ermöglicht. Dieser Dialog ist nötig, um das neue System und einen geeigneten neuen Sprachgebrauch dafür so weit zu entwickeln bis es schließlich Resonanz in der Öffentlichkeit erzeugt. Das braucht seine Zeit. Und ich habe die eindrucksvolle Erfahrung, nach intensiver Suche schließlich an einem Tag innerhalb von Sekunden plötzlich die Möglichkeit dieses neuen Wirtschaftssystems erkannt zu haben. Daher erwarte ich in der Gesellschaft einen ähnlichen plötzlichen Erkenntnisdurchbruch. Der ist mit Hilfe der Selbstorganisationstheorien als ein Symmetriebruch an einem Bifurkationspunkt detailliert voraussehbar. Das hilft, ihn in unserer Welt vielleicht gezielt auslösen zu können.“ —

So weit der Text von 2002. Zu der Aussage am Schluss, dass mich ein Symmetriebruch in meinem Denken innerhalb von Sekunden die Möglichkeit einer kooperativen Marktwirtschaft erkennen ließ, sei bemerkt, dass ich an diesem Tag meine gesamte Lebenserfahrung gegenwärtig hatte. Zudem hatte ich einige Stunden zuvor die jahrelange Suche nach einem Ausweg aus den heutigen Krisen der Menschheit aufgeben müssen. Ich stellte mir daraufhin andere Fragen und kam überraschend zu der Schlussfolgerung, dass wir Menschen alle unsere Aktivitäten weltweit friedlich koordinieren könnten, mit dem gemeinsamen Ziel, dass jeder von uns immer wieder ein möglichst befriedigendes Leben haben soll. Über diese Schlussfolgerung im Dezember 1975 ist in meinem zweiten Beitrag in der Freitag-Community mehr gesagt („Wir können Frieden schaffen – …“).

Der vorliegende Text vom Mai 2002 wurde im Jahr 2003 in zwei Rundbriefen des Netzwerks ökologischer Bewegungen „Grüne Liga“ veröffentlicht: Im Rundbrief „Libell“ Nr. 102 in Potsdam und im Rundbrief „Alligator“ Nr. 10+11/2003 in Berlin. Es gab zu diesem Diskussionspapier kein Literaturverzeichnis, weil die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, von denen ich, oft auch im persönlichen Dialog, besonders viel gelernt habe, unter meinen Gesprächspartnern längst aus anderen Veröffentlichungen und aus unseren Gesprächen bekannt gewesen sind. Hier folgen einige der Namen, die unbedingt genannt werden müssen, mit den Titeln ihrer für mich bis zum Jahr 2002 wichtigsten Veröffentlichungen (das kann jeweils ein Buch oder ein Aufsatz sein, – Genaueres lässt sich durch „googeln“ erfahren; die Jahreszahl betrifft jeweils die mir vorliegende Ausgabe):

Konrad Lorenz „Die Rückseite des Spiegels“ 1977. Ute Holzkamp-Osterkamp „Grundlagen der psychologischen Motivationsforschung – Band1“ 1981. Irenäus EiblEibesfeldt „Die Biologie des menschlichen Verhaltens“ 1986. Günter Tembrock „Verhalten bei Tieren“ 1986. Felix von Cube und Dietger Alshuth „Fordern statt Verwöhnen“ 1989. Hoimar von Ditfurth „Der Geist fiel nicht vom Himmel“ 1986. Herbert Hörz und Karl-Friedrich Wessel „Philosophische Entwicklungstheorie“ 1983. Ilya Prigogine und Isabelle Stengers „Dialog mit der Natur“ 1981. Werner Ebeling und Rainer Feistel „Physik der Selbstorganisation und Evolution“ 1982. Hermann Haken “Erfolgsgeheimnisse der Natur“ 1984. Bernhard Hassenstein „Klugheit. Bausteine zu einer Naturgeschichte der menschlichen Intelligenz“ 1988. Hans Kilian „Die linke Theorie und ihre rechte Praxis“ 1970. Hans-Joachim Maaz „Der Gefühlsstau“ 1990. Michael Lukas Moeller „Die Wahrheit beginnt zu zweit“ 1993.