Zeitmaschine – Mithu Sanyals „Antichristie“: Reinkarnation mit Bart

Das Jahr ist 2022, die Queen stirbt. Ihr Leichnam ist noch nicht erkaltet, da beginnen bereits die Diskussionen über die Verehrung der Monarchin, die doch wie keine andere bis zuletzt den Kolonialismus verkörperte.

Parallel arbeitet die Drehbuchautorin Durga in London an einem weiteren Mord an einer Queen: Gemeinsam mit ihrem ethnisch divers besetzten Writers’ Room will sie eine neue Hercule-Poirot-Adaption fürs Fernsehen schreiben. Der berühmte Detektiv aus der Feder der Queen of Crime Agatha Christie ist leider zu kolonialistisch und rassistisch. Poirot muss dringend dekolonialisiert werden!

Durga ist die Protagonistin in Mithu Sanyals fantastisch-originellem Roman Antichristie, der seine Heldin auf eine Reise durch die Zeit und die britische Kolonialgeschichte Indiens schickt. Obendrein muss sich Durga mit ihrer eigenen Identität auseinandersetzen. Soeben ist ihre Mutter Lila gestorben. Lila war – wie alle Mütter – eine schwierige Person: esoterisch-spiritualistisch, bisweilen verschwörungstheoretisch-schwurblerisch aktiv.

Durga verstreut die Asche der Mutter in alle Winde. Nun ja, den Teil der Asche, der nicht in ihrem Mund landet. Mit dem Tod der Mutter beginnt die Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte und dem, was abwesend ist. Der indisch-britische Vater nämlich, den Lila verlassen hat und dessen Sprache nie Durgas Sprache wurde. Durga ist von allem etwas: eine Deutsche, eine Halbinderin, eine Liebhaberin der britischen Kultur. Besonders angetan hat es ihr Doctor Who, die britische Kultserie, in der ein Timelord in immer neuen Reinkarnationen mittels seiner TARDIS (eine blaue Polizeinotruf-Box) durch die Geschichte reist.

In vielen anderen deutschen Romanen hätte Durga an dieser Stelle begonnen, die Vergangenheit des Vaters in Dokumenten zu erforschen. Oder sich auf eine Spurensuche vor Ort begeben. Aber hier schreibt schließlich Mithu Sanyal, und zwar mit viel Einfallsreichtum und Chuzpe. Durga wird kurzerhand zu einem Timelord, einem Zeitreisenden, und wacht plötzlich im Jahr 1906 in London auf. Wie es das Schicksal – oder Zeitgöttin Kali – so will, begegnet sie umstandslos einer Gruppe von indischen Befreiungskämpfern, die sie, nun als Mann namens Sanjeev reinkarniert, unter ihre Fittiche nehmen. Hier durchlebt sie/er unmittelbar die Auseinandersetzung um die Frage, wie der Aufstand zu bewerkstelligen sei: friedlich oder mit Mitteln der Gewalt? Als die Gruppe beginnt, mit Hilfe der Pläne russischer Anarchisten Bomben zu bauen, wird Durgas Pazifismus auf die Probe gestellt. Schlimmer noch: In der leibhaftigen Begegnung mit Mahatma Gandhi entpuppt sich dieser als Enttäuschung und noch dazu als Rassist.

Sanyals Roman springt nun zwischen den Ebenen: zwischen der Gegenwart des Writers’ Room, der sich ganz und gar in Identitätspolitik verliert und wie eine (unbeabsichtigte) Parodie auf „Wokeness“ wirkt, und dem Kampf auf Leben und Tod bei den echten Revolutionären. Sanjeevs Körper ist dabei mehr als ein Transportvehikel. In ihm vermengen sich Durgas und Sanjeevs Bewusstsein. Und fast ist es so, als sei in Sanjeev ein verlorener Anteil des väterlichen Erbes eingeschlossen: Denn Sanjeev spricht die Vatersprache, die Durga nicht beherrscht. „Durga war mehr Durga, weil Sanjeev Sanjeev war“, heißt es im Roman. Sanyal spielt hier mit dem Begriff der „Regeneration“ aus Doctor Who: Der Doctor stirbt und kehrt in einem neuen Körper zurück. Die Regeneration ist Heilung und Neuanfang. Regeneration ist in Durgas/Sanjeevs Fall aber auch das erneute Durchleben eines transgenerationalen Schmerzes. „Jeder Körper ist eine Zeitmaschine, nur eben eine sehr, sehr langsame Zeitmaschine.“

Zu den besten und lebendigsten Szenen des Romans gehören jene, in denen Durga ihren neuen Körper erkundet. Durga ist kaum als Sanjeev erwacht, da probiert sie/er auch schon mit lustvollem Staunen den neuen Penis aus. Sanjeevs Einführung in den Kreis der Verschwörer dagegen besteht aus informationsdichten Dialogen. Die Revolutionäre müssen Sanjeev/Durga (und den Lesern!) schließlich unzählige Details zur indischen Kolonialgeschichte näherbringen. Bemerkenswert scheint nur, dass die Männer ganz im Slang des 21. Jahrhunderts sprechen und schon mal „WTF?“ ausrufen. Die Szenen mit dem Writers’ Room, der an der Poirot-Verfilmung schreibt, sind dagegen schwer erträglich. Einmal beginnt die Gruppe, die Singularität des Holocausts zu relativieren.

Doch das Umschreiben von Geschichten ist brandaktuell. Christies Werke zogen wiederholt den Vorwurf des Kolonialismus und Rassismus auf sich. Soll man sie mit Triggerwarnungen versehen? Vielleicht hätte man sich von der Autorin gewünscht, dass sie am Rande über die auktoriale Integrität eines Textes nachdenkt. Was bleibt von einer Figur übrig, wenn man ihre materiellen Grundlagen, ihren Körper, die Hautfarbe, die Stellung in der Klassengesellschaft verändert? Wäre es nicht klüger, eine quirky indische Detektivin zu erfinden?

„Gender swaps“ und „race swaps“, also das Ändern von Geschlecht oder Hautfarbe einer Figur, sind in der Popkultur an der Tagesordnung. Auch Doctor Who wurde zunächst als Frau reinkarniert, nun ist er ein Schwarzer, queerer, „male presenting“ Timelord. Sanyal ist popkulturell also am Puls der Zeit – das galt ja bereits für ihr Buch Identitti, in dem sich eine Professorin kurzerhand eine andere „race“ aneignet.

Antichristie jedenfalls bereichert das Sprechen über Herkunft fernab von weißer, biodeutscher Identität, weil nicht nur Gefühle wie Verlust und Trauer verhandelt werden, sondern die Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit dieser Identitäten. Es zeigt aber auch: Es gibt nichts Gutes. Außer man tut es. Ein politisch korrekter Writers’ Room wird die Welt nicht verändern.

Antichristie Mithu Sanyal Hanser 2024, 544 S., 25 €