Zehn Jahre später: Der Dieselskandal ist viel mehr denn ein Rechtsfall

Helles Tageslicht fällt an einem Montag Ende Mai durch die Fenster von Saal 141 des Landgerichts Braunschweig. Die Holzvertäfelung aus amerikanischer Weißeiche wirkt nüchtern, der Schwurgerichtssaal fast kühl. Am Ende eines jahrelangen Strafprozesses hören vier ehemalige Volkswagen -Manager an diesem Tag ihre Urteile. Einer vergräbt das Gesicht in den Händen: zwei Jahre und sieben Monate Haft. Der Mitangeklagte wenige Meter weiter: viereinhalb Jahre Gefängnis. Es sind klare Urteile. Doch ein Ende des Dieselskandals markieren sie nicht. Alle vier legen Revision ein. Und gegen den prominentesten Beschuldigten, den einstigen VW-Chef Martin Winterkorn, wird wohl nie ein Urteil fallen. Die Gesundheit des 78 Jahre alten früheren Managers ist schwer angeschlagen, das Verfahren gegen ihn vorläufig eingestellt.
So ist der Stand der Aufarbeitung eines der größten Industrieskandale. An diesem Donnerstag jährt er sich zum zehnten Mal. Am 18. September 2015, mitten in die Automobilausstellung IAA, die damals in Frankfurt stattfand, war die Nachricht hereingeplatzt, dass VW die Abgaswerte von Millionen Dieselautos manipuliert hat.
Die „Notice of Violation“ der US-Umweltbehörde EPA löste einen Sturm aus. Fünf Tage später trat Winterkorn zurück, in Amerika folgten Milliardenstrafen und Vergleiche, weitere Länder ließen den Konzern zahlen. Zugleich begann der Abwehrkampf. VW hält bis heute daran fest, der Eingriff in die Motorsteuerung sei „nur nach US-amerikanischem Recht unzulässig“ gewesen. Der Vorstand habe bis kurz vor öffentlichem Bekanntwerden der Manipulationen keine Kenntnis davon gehabt. Herbert Diess, einer von Winterkorns Nachfolgern, hat zwar schon im Sommer 2019, also wenige Jahre nach Bekanntwerden des Skandals, im Fernsehen offen von Betrug statt von „Dieselthematik“ gesprochen – ein Bruch mit der bis dahin beschönigenden Sprachregel. Doch das wurde im Konzern als unglückliche Formulierung abgetan.