Wie weit rechts stillstehen die Reichen?

Nur fünf Worte waren es, unterlegt mit einem tanz­baren Liebeslied, die in dieser Woche das ganze Land beschäftigt haben: „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“. Auf dem ­Videoclip ist eine Gruppe junger Leute zu sehen, die zur Melodie von Gigi D’Agostinos „L’amour toujours“ jene fremdenfeindlichen Parolen in die Kamera singen – noch ahnungslos, welchen Sturm der Empörung sie damit auslösen würden.

„Echt jetzt? Ausgerechnet ihr?“ Mit diesen Fragen ließe sich das kollektive Kopfschütteln von Zivilgesellschaft und Politik wohl zusammenfassen. Es fällt schwer, sich eine Antwort der Beteiligten hierauf vorzustellen. Doch klar ist für viele: Das spärliche Wissen, das man über das obere halbe Prozent hat, wurde soeben durch eine bisher kaum beachtete, die meisten abstoßende politische Komponente ergänzt, das tiefe Misstrauen gegenüber einer fernen Elite einmal mehr gestärkt. Doch wie verbreitet ist das Sylter Gedankengut in ihren Kreisen wirklich?

Marie Gollatz ist 22 Jahre alt, sie ist auf der Nordseeinsel aufgewachsen und hat dort gelebt, bis sie vor drei Jahren für ihr Studium nach Hamburg gezogen ist. Die Berichte über ihre Heimat tun ihr weh. Denn diejenigen, über die man aktuell spricht, die in den sozialen Medien verurteilt und gesucht werden, haben mit den Einwohnern der Insel nichts zu tun, sagt sie. „Es sind die Menschen, die auf Sylt Urlaub machen, und nicht die Sylter.“ In ihrer Zeit auf der Insel hat Gollatz auch in der Gastronomie gearbeitet. Rechtsextremistische Äußerungen oder Parolen seien ihr zwar nicht untergekommen, sagt sie. Aber ihr sei schon aufgefallen, dass Touristen auf Sylt Servicepersonal mit einer dunkleren Hautfarbe anders behandelt hätten als sie, sagt Gollatz.

Ausdruck einer extremen politischen Haltung

Sie sei nicht überrascht, dass ein solcher Vorfall gerade an Pfingsten auf der berühmten Whiskymeile in Kampen passiert. Die Vorkommnisse erklärt sie sich mit der Gleichheit der Masse: Die Leute, die dort gefeiert haben, seien sich in ihrer Lebensgeschichte alle sehr ähnlich. Sie sind wohlhabend, Probleme werden gerne mit Geld gelöst, schwere Konsequenzen haben die eigenen Handlungen nur selten. Und wer sich in einer Gruppe von Menschen wohlfühlt, verliert Hemmungen. „Wenn du auf Sylt feiern gehst, vor allem an Pfingsten, dann ist dir alles egal. Jedes Jahr steht nach diesem Wochenende ein teures Auto kaputt am Strand. Also wundert es mich auch nicht, dass die sich da wohlgefühlt haben.“

Denn die klischeebehaftete Partygesellschaft Kampens bleibt unter sich. Wer sich den Eintritt von 150 Euro nicht leisten kann, wird zu dieser Gruppe niemals dazugehören. So wird an der Tür schon ausgesiebt, und was entsteht, ist ein geschlossener Raum für die Elite der Touristen. „Das war zwar offiziell keine Privatparty, aber eigentlich schon. Du gehst da nicht feiern, wenn du mit dieser Klientel nichts zu tun hast“, sagt Gollatz.

Silvester Sponsel ist den umgekehrten Weg gegangen. Er kommt vom Festland, aus Würzburg, und lebt inzwischen seit gut einem Jahr auf Sylt. Das Video habe ihn schockiert, sagt er. „Ich habe hier viele Freunde im Alter von 18 bis 27, von denen denkt garantiert keiner so.“ Aber auch sonst habe er derartige Parolen und Äußerungen auf Sylt noch nie gehört. Was die jungen Leute in dem Video bewogen haben könnte, sich so zu äußern, weiß er nicht. Er hat allerdings Zweifel, ob die geäußerten Parolen tatsächlich Ausdruck einer extremen politischen Haltung sind. „Das sind Vollidioten, aber nicht unbedingt Vollzeitnazis.“

„Die wissen schon genau, was sie da tun“

Diese Einschätzung teilt Silke Borgstedt, Geschäftsführerin des Sinus-Instituts, das vor allem für seine Forschung zu den sogenannten Sinus-Milieus bekannt ist. „Man kann aus einer solchen Aktion – die absolut zu verurteilen ist – nicht schließen, dass es sich um eine Gruppe von AfD-Wählern handelt.“ Auch die Milieuzugehörigkeit lasse sich auf dieser Basis nicht bestimmen. Die Gründe, sich fremdenfeindlich zu äußern, seien vielfältig. Während es bei ressourcenschwachen Milieus um eine befürchtete Übervorteilung geht, ist bei der Mittelschicht eher der Wunsch nach Komplexitätsreduktion ein Treiber.

Und wie ist es in konservativ-gehobenen Gruppen, denen wohl auch die Partygäste auf Sylt zuzuordnen wären? Hier, sagt Borgstedt, gehe es oft um den Tabubruch. „In diesem Milieu dominieren Werte wie Ordnung, Disziplin, Verantwortung und gewisse Vorstellungen zu Anstand und Moral.“ Jüngere würden daraus gelegentlich versuchen, auszubrechen. „Da geht es dann um das Kokettieren mit Tabubrüchen.“ Daher würden sich fremdenfeindliche Äußerungen in dieser Gruppe nicht unbedingt in der Wahl von rechtsextremen Parteien niederschlagen. „Relevant ist für die Wahlentscheidung eher, welche Partei wirtschaftspolitisch im eigenen Sinne agiert.“

Gleichzeitig warnt sie vor der Verharmlosung des Vorfalls: „Die wissen schon genau, was sie da tun.“ Die Gruppe habe sich offenbar keine Gedanken über mögliche Konsequenzen gemacht – wozu das Umfeld Sylt und Kampen beigetragen haben dürfte. „Das Entre-nous-Bewusstsein ist sehr stark ausgeprägt. Man ist unter sich und meint, sich das als Spaß leisten zu können, weil man sich sicher fühlt.“

Zuwanderungsfragen wichtig für Wahlentscheidung

Borgstedt findet die Berichterstattung zu dem Video bemerkenswert. „Ich weiß nicht, ob mich mehr die Empörung überrascht hat oder die Überraschung empört.“ Das sage viel über das Bild aus, das große Teile der Gesellschaft von AfD-Wählern haben. „Die Empörung kann ja nur so groß sein, weil man trotz bekannter Datenlage noch immer davon ausgeht, es handele sich um ein Problem im Osten, von armen Leuten, von Frustrierten, die nicht so transformationsbeschwingt un­ter­­wegs sind wie man selbst.“

Ein Erstarken der AfD sieht Borgstedt in den vergangenen Jahren in fast allen Milieus – auch in der Oberschicht. Die Gründe sind hier schwierig zu ermitteln, sagt sie. „Diesen Leuten ist wichtig, dass das Gesamtsystem funktioniert, sie als Milieu aber nicht ihren Führungsanspruch verlieren. Wenn die eigene wirtschaftspolitische Stärke als gefährdet wahrgenommen wird, nimmt die Wahrscheinlichkeit von Ressentiments gegenüber anderen zu.“

Im Detail differieren die Daten der Wahlforschung, im Groben gehen sie in eine ähnliche Richtung: Es sind in besonderem Maß mittlere Einkommens-, Bildungs- und Altersgruppen, die für die AfD votieren. Leute, die im Leben nicht das erreicht zu haben glauben, was ihnen eigentlich zusteht. Und vor allem Menschen, die fürchten, das Erreichte zu verlieren. Das muss nicht zwangsläufig der Bäckermeister aus Sachsen-Anhalt mit seinem Kleinbetrieb sein. Da können auch größere Summen eine Rolle spielen.

Schließlich wurde die AfD ursprünglich nicht in Bitterfeld gegründet, sondern im wohlhabenden Oberursel am Taunus – von Leuten, von denen zumindest einige glaubten, nur ein Euro-Austritt könne ihre Bankguthaben retten. Und Recherchen der Zeitschrift „Der Spiegel“ legen nahe, dass der Bankier August von Finck die Rechts-außen-Partei in ihrer Gründungsphase finanziell unterstützte – nachdem er schon zuvor die FDP mit Parteispenden in Bedrängnis gebracht hatte. Auch wenn die AfD in den Jahren danach immer ausländerfeindlicher geworden ist: Nicht für jeden Wähler sind Zuwanderungsfragen der Hauptgrund seiner Wahlentscheidung, das gilt in allen Schichten.

Förderung ausländerfeindlicher Einstellungen

Nicht bestätigt hat sich auch eine These, die manch einer durch das Sylt-Video bestätigt sah: dass die AfD mittlerweile unter Jüngeren die beliebteste Partei sei. Die Daten, die vor ein paar Wochen Furore machten, beruhten auf einer Onlinebefragung, die von etablierten Meinungsforschern als nicht repräsentativ angesehen wird. Nach Erhebungen des Berliner Forsa-Instituts kommt die Partei unter den 14- bis 29-Jährigen nur auf 14 Prozent – immer noch viel, aber knapp unter den Werten für die Gesamtbevölkerung und vor allem weit weniger als die Grünen.

Ausländerfeindliche Einstellungen wiederum werden oft weniger durch wirtschaftliche Sorgen als vielmehr durch kulturelle Faktoren gefördert. Möglicherweise haben die Sylter Partygäste in ihrem täglichen Lebensumfeld schlicht weniger mit Migranten zu tun, im Gegensatz zu Menschen in vermeintlich einfachen Berufen – die bei Befragungen oft betonten, gegen ihre Kollegen richte sich die Migrationskritik selbstverständlich nicht. Zumal Menschen aus vorausgegangenen Einwanderkohorten oft selbst zu den striktesten Gegnern neuer Einwanderung zählen.

Sinus-Forscherin Borgstedt nennt aber noch ein weiteres Motiv, warum das Sylt-Video solches Aufsehen erregte: Das Bild, das viele von Reichen hätten, sei dadurch ins Wanken geraten. „Man weiß, dass vieles davon abhängt, dass die Wohlhabenden in diesen Zeiten Verantwortung übernehmen. Da ist eine große Enttäuschung, dass diese Leute ihren Einfluss nicht positiv nutzen – im Gegenteil.“