Wie israelische Geheimdienste die Chefankläger in Den Haag einschüchtern

Als der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) jüngst ankündigte, Haftbefehle gegen israelische und Hamas-Führer zu beantragen, war von ihm zugleich eine kryptische Forderung zu hören: „Ich bestehe darauf, dass alle Versuche, die Mitarbeiter dieses Gerichts zu behindern, einzuschüchtern oder in unzulässiger Weise zu beeinflussen, sofort einzustellen sind.“

Karim Khan machte keine genauen Angaben zu Versuchen, sich in die Arbeit des ICC einzumischen, verwies aber auf eine Klausel im Gründungsvertrag des Gerichtshofs, die eine solche Einmischung als Straftatbestand einstuft. Sollte sich ein solches Verhalten fortsetzen, fügte er hinzu, „wird mein Büro nicht zögern zu handeln“. Khan sagte nicht, wer versucht hatte, auf die Justizverwaltung Einfluss zu nehmen, und wie das genau vor sich gegangen war.

Unter dem Druck der Vereinigten Staaten

Nun deckt eine investigative Recherche des Guardian und der beiden in Israel ansässigen Magazine +972 und Local Call auf, wie Israel seit fast einem Jahrzehnt einen andauernden und heimlichen „Krieg“ gegen das Gericht geführt hat. Das Land setzte seine Geheimdienste ein, um hochrangige ICC-Mitarbeiter zu überwachen, zu hacken, unter Druck zu setzen, zu verleumden und zu bedrohen, um die Ermittlungen zu vereiteln. Der israelische Geheimdienst verfolgte die Kommunikation zahlreicher ICC-Mitarbeiter, darunter Khan und seine Vorgängerin Fatou Bensouda. Zu diesem Zweck wurden Telefongespräche abgehört, dazu Nachrichten, E-Mails und Dokumente gecovert.

Durch diese anhaltende Überwachung erhielt der israelische Premier Benjamin Netanjahu vorab Kenntnis über die Absichten des ICC-Staatsanwalts. Eine kürzlich abgefangene Nachricht deutete darauf hin, dass Khan Haftbefehle gegen israelische Politiker erlassen wollte, aber unter „enormem Druck der Vereinigten Staaten“ stand, so eine mit dem Inhalt vertraute Quelle.

Bensouda, die Ermittlungen des Strafgerichtshofs zu den palästinensischen Gebieten 2021 einleitete und damit den Weg für die Ankündigung der vergangenen Woche ebnete, wurde ebenfalls ausspioniert und angeblich bedroht. Es war klar, Netanjahu interessierte sich sehr für die Geheimdienstoperationen gegen den ICC und wurde von einer Geheimdienstquelle als „besessen“ von abgefangenen Informationen über den Fall beschrieben.

Unter Leitung nationaler Sicherheitsberater waren der Inlandsgeheimdienst Shin Bet, die militärische Geheimdienstabteilung Aman und die Abteilung für Cyberspionage, Einheit 8200, an den Überwachungen beteiligt. Gewonnene Informationen wurden nach Angaben der Quellen dem Justizministerium, dem Außenministerium und dem Ministerium für strategische Angelegenheiten zugeleitet.

Eine verdeckte Operation gegen Bensouda, die kürzlich vom Guardian aufgedeckt wurde, war persönlich von Netanjahus engstem Verbündeten Yossi Cohen geleitet worden, der zu diesem Zeitpunkt Direktor des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad war. Details zu Israels neunjähriger Kampagne zur Vereitelung von ICC-Untersuchung wurden vom Guardian, dem israelisch-palästinensischen Online-Magazin +972 Magazine und der hebräischsprachigen Nachrichtenseite Local Call aufgedeckt.

ICC-Anklagen werden seit zehn Jahren vorbereitet

Die gemeinsame Investigation basiert auf Interviews mit mehr als zwei Dutzend aktuellen und früheren israelischen Geheimdienst- und Regierungsmitarbeitern, leitenden Vertretern des ICC, Diplomaten und Rechtsanwälten, die sich mit Israels Bemühungen auskennen, dieses Tribunal zu unterhöhlen.

Auf Anfrage des Guardian sagte ein Sprecher des ICC, das Gericht sei sich „proaktiver nachrichtendienstlicher Aktivitäten einer Reihe nationaler Geheimdienste bewusst, die dem Gericht feindlich gegenüberstehen“. Man ergreife laufend Gegenmaßnahmen, „keiner der jüngsten Angriffe nationaler Geheimdienste“ habe den Kernbestand an Beweismitteln des Gerichts erreicht, der weiterhin sicher sei.

Ein Sprecher des Büros des israelischen Premiers kommentierte: „Die uns übermittelten Fragen enthalten viele falsche und unbegründete Behauptungen, die dem Staat Israel schaden sollen.“ Ein Militärsprecher fügte hinzu: „Die israelischen Streitkräfte (IDF) führten und führen keine Überwachungs- oder andere Geheimdienstoperationen gegen den ICC durch.“

Die von Chefankläger Khan gegen Netanjahu und Verteidigungsminister Galant erhobenen Vorwürfe wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit beziehen sich ausnahmslos auf Israels achtmonatigen Krieg in Gaza, bei dem nach Angaben der Gesundheitsbehörde des Gebietes mehr als 36.000 Menschen getötet wurden. Doch die ICC-Anklagen werden bereits seit einem Jahrzehnt vorbereitet. Es ging in kleinen Schritten voran, während israelische Staatsvertreter zunehmend besorgt über die Möglichkeit von Haftbefehlen waren, die die Angeklagten daran hindern würden, in einen der 124 Mitgliedsstaaten des Gerichtshofs zu reisen, weil sie dort eine Verhaftung hätten befürchten müssten.

Es begann im Januar 2015

Es war dieses Schreckensgespenst möglicher Strafverfolgungen durch den ICC in Den Haag, der laut einem früheren Geheimdienstmitarbeiter das „gesamte militärische und politische Establishment“ dazu brachte, eine Gegenoffensive gegen den ICC „als Krieg zu betrachten, der geführt werden musste und gegen den sich Israel verteidigen musste. Er wurde mit militärischen Begriffen beschrieben“.

Dieser „Krieg“ begann im Januar 2015, als bestätigt wurde, dass Palästina sich den Mitgliedstaaten des Gerichtshofs anschließen würde, nachdem es von der UN-Generalversammlung als Staat anerkannt worden war. Israelische Regierungsvertreter verurteilten den Beitritt als eine Form des „diplomatischen Terrorismus“. Laut einem früheren Mitarbeiter im Verteidigungsbereich, der mit Israels Bemühungen zur Abwehr des ICC vertraut ist, wurde der Beitritt zum Gerichtshof „als Überschreiten einer roten Linie“ wahrgenommen und der „vielleicht aggressivste“ diplomatische Schritt der Palästinensischen Autonomiebehörde in der Westbank regiert. „Als Staat von den UN anerkannt zu werden, ist schön“, sagten die Quellen weiter. „Aber der Internationale Strafgerichtshof ist ein Mechanismus mit Zähnen.“

Eine persönlich überbrachte Drohung

Für Fatou Bensouda, eine angesehene gambische Anwältin, die 2012 zur ICC-Chefanklägerin gewählt wurde, brachte der Beitritt Palästinas zum Gerichtshof eine folgenschwere Entscheidung mit sich. Nach dem Römischen Statut, dem Vertrag zur ICC-Gründung, ist die Zuständigkeit der Kammer auf Verbrechen beschränkt, die in den Mitgliedsstaaten oder von Staatsangehörigen dieser Staaten begangen werden. Israel ist wie die USA, Russland und China kein Mitglied. Nach Palästinas Aufnahme als ICC-Mitglied fielen aber alle Verbrechen, die in den besetzten palästinensischen Gebieten begangen wurden – unabhängig von der Nationalität der Täter – in Bensoudas Zuständigkeitsbereich.

Kurz nach Palästinas Beitritt eröffnete Bensouda am 16. Januar 2015 eine vorläufige Untersuchung dessen, was in der Rechtssprache des Gerichtshofs als „die Lage in Palästina“ bezeichnet wurde. Im folgenden Monat standen zwei Männer, die es geschafft hatten, die Privatadresse der Anklägerin in Erfahrung zu bringen, vor deren Zuhause in Den Haag. Laut mit dem Vorfall vertrauten Quellen lehnten es die Männer ab, sich zu identifizieren. Sie sagten, sie wollten Bensouda persönlich einen Brief von einer nicht namentlich genannten deutschen Frau übergeben, die ihr danken wolle. Der Umschlag enthielt hunderte Dollar in bar und einen Zettel mit einer israelischen Telefonnummer.

Laut der mit der Untersuchung des Vorfalls durch den ICC betrauten Quellen war es nicht möglich, die Männer zu identifizieren oder ihre Motive zu klären. Man sei aber zu dem Schluss gekommen, dass Israel der Staatsanwältin offenbar signalisieren wollte, dass man wusste, wo sie wohnt. Der ICC meldete den Vorfall den niederländischen Behörden und sorgte für zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen. In Bensoudas Haus wurden Überwachungskameras installiert. Zugleich entstand im Büro der Chefanklägerin der Eindruck, das Gericht sei anfällig für Spionageaktivitäten. Daher leitete man Abwehrmaßnahmen zum Schutz vertraulicher Ermittlungen ein wie der zur Lage in den besetzten palästinensischen Gebieten.

Derweil hat in Israel der Nationale Sicherheitsrat eine Reaktion angestoßen, an der die Geheimdienste beteiligt waren. Netanjahu, einige der Generäle und Spionagechefs, von denen die Operation autorisiert wurde, hatten ein persönliches Interesse an ihrem Ausgang.

Laut mehreren israelischen Quellen wollte die IDF-Führung, dass sich der militärische Nachrichtendienst den Bemühungen anschließt, die von anderen Spionageagenturen geleitet wurden, um sicherzustellen, dass hochrangige Offiziere vor Anklagen geschützt werden. Es hieß, hohe Offiziere hätten Angst vor Einsätzen in der Westbank, weil sie befürchteten, durch den ICC verfolgt zu werden. Zwei an Abhöraktionen beteiligte Geheimdienstler erzählten später, das Büro des Ministerpräsidenten habe reges Interesse an ihrer Arbeit gezeigt. Es habe „Anweisungen“ zur Überwachung von Gerichtsmitarbeitern verschickt. Ein Beteiligter beschrieb den Ministerpräsidenten als „besessen“ von den abgehörten Informationen, die Aktivitäten des Gerichtshofs beleuchteten.

Es gab gehackte E-Mails und überwachte Telefonate

Fünf Quellen gaben an, der israelische Geheimdienst habe routinemäßig Telefongespräche Bensoudas und ihrer Mitarbeiter mit Palästinensern abgehört. Da Israel dem Gerichtshof den Zugang zu Gaza und der Westbank inklusive Ost-Jerusalem versagte, war das Gericht gezwungen, einen Großteil seiner Recherche telefonisch durchzuführen, was seine Ermittler anfälliger für die Überwachung machte. Dank seines umfassenden Zugangs zum palästinensischen Telefonnetz konnte der israelische Geheimdienst laut Aussage der Quellen die Telefonate abfangen, ohne Abhör-Software auf den Geräten der ICC-Mitarbeiter zu installieren. „Wenn Fatou Bensouda mit irgendjemandem in der Westbank oder in Gaza sprach, gelangte dieses Gespräch in ein Abhörsystem“, erklärte eine Quelle. Man habe intern nicht gezögert, die Chefanklägerin auszuspionieren: „Bensouda ist schwarz und Afrikanerin. Also: Wen interessiert’s?“

Einer israelischen Quelle zufolge standen auf einer großen Tafel in einer israelischen Geheimdienstabteilung die Namen von gut 60 Personen, die überwacht wurden, die Hälfte davon Palästinenser, die andere Hälfte stammte aus anderen Ländern. Auch Mitarbeiter der UNO und des ICC waren darunter. In Den Haag wurden Bensouda und ihr Büro über diplomatische Kanäle darauf aufmerksam gemacht, dass Israel ihre Arbeit überwache. Ein früherer leitender ICC-Mitarbeiter erinnerte sich: „Wir wurden darauf hingewiesen, dass sie versuchten, Informationen über den Stand der vorläufigen Ermittlungen zu bekommen.“

Überwachung palästinensischer Organisationen

Die Mitarbeiter erfuhren auch von gezielten Drohungen gegen die bekannte palästinensische Nichtregierungsorganisation Al-Haq – eine von mehreren palästinensischen Menschenrechtsorganisationen, die häufig Informationen für die ICC-Ermittlungen einreichte. Oft waren das lange Dokumente mit Details von Vorfällen, die die Organisation von der Staatsanwältin berücksichtigte sehen wollte. Die Palästinensische Autonomiebehörde reichte ähnliche Dossiers ein.

Die Dokumente enthielten häufig sensible Informationen, etwa die Aussagen potenzieller Zeugen. Al-Haqs Unterlagen sollen auch konkrete Anschuldigungen wegen Verbrechen nach dem Römischen Statut gegen Leute in leitenden Positionen vorgebracht haben, auch aus den höheren Armeerängen, etwa gegen Chefs des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Bet und gegen Verteidigungsminister Benny Gantz.

Jahre später, als der Internationale Strafgerichtshof eine volle Untersuchung des Falles Palästina einleitete, stufte Benny Gantz Al-Haq sowie weitere fünf Gruppen, die sich für die Rechte der Palästinenser einsetzen, als terroristische Organisationen ein, was verschiedene europäische Staaten anders sehen. Später befand der US-amerikanische Geheimdienst CIA, dass es für die Einstufung keine Belege gebe. Die Organisationen selbst bezeichneten ihre Einstufung als „gezielten Angriff“ gegen jene, die dem Internationalen Gerichtshof am aktivsten zuarbeiteten.

Nach Aussage mehrerer aktueller und früherer Geheimdienstoffiziere überwachten militärische Cyberoffensive-Teams und Shin Bet systematisch die Mitarbeiter:innen palästinensischer NGOs und der palästinensischen Autonomiebehörde, die mit dem Internationalen Strafgerichtshof zusammenarbeiteten. Zwei Geheimdienstler beschrieben, wie israelische Agenten die E-Mails von Al-Haq und anderen Gruppen hackten, die mit Bensoudas Büro kommunizierten. Einer der Quellen zufolge installierte der Shin Bet sogar die von der privaten NSO Group entwickelte Spionagesoftware Pegasus auf den Telefonen mehrerer palästinensischer Mitarbeiter:innen von Nichtregierungsorganisationen sowie zweier hochrangiger Funktionäre der Palästinensischen Behörde.

Die Beobachtung der palästinensischen Eingaben an den ICC wurde als Teil des Mandats des Shin Bet betrachtet, aber einige Verantwortliche in der Armee waren besorgt, dass das Ausspionieren einer ausländischen zivilen Institution eine rote Linie überschritt, weil es keine militärischen Operationen betraf. „Es hat nichts mit der Hamas zu tun, nichts mit der Stabilität in der Westbank“, kommentierte ein Militärgeheimdienstler. Ein anderer fügte hinzu: „Wir nutzten unsere Ressourcen, um Fatou Bensouda auszuspionieren – das gehört nicht zu den legitimen Aufgaben eines militärischen Geheimdienstes.“

Die Treffen zwischen Israel und dem Internationalen Strafgerichtshof

Legitim oder nicht, die Überwachung des Internationalen Gerichtshofs und Palästinensern, die für die Anklagen gegen Israelis aussagen, brachte der israelischen Regierung Vorteile für geheime Back-Channel-Verhandlungen, die sie mit dem Büro der Chefanklägerin einleitete. Israels Treffen mit dem ICC waren eine höchst sensible Angelegenheit: Wären sie bekannt geworden, hätten sie möglicherweise die offizielle Position der Regierung unterhöhlt, die die Autorität des Gerichts nicht anerkannte.

Laut sechs Quellen, die mit den Geheimtreffen vertraut sind, reiste eine Delegation hoher Regierungsrechtsanwälte und Diplomaten nach Den Haag. Zwei Quellen sagten im Interview, die Treffen seien von Benjamin Netanjahu autorisiert gewesen. Die israelische Delegation bestand aus Vertretern des Justizministeriums, des Außenministeriums und des Büros des Generalstaatsanwalts der Streitkräfte. Die Treffen fanden zwischen 2017 und 2019 statt und wurden von dem bekannten Rechtsanwalt und Diplomaten Tal Becker angeführt.

„Am Anfang war es angespannt“, erinnerte sich ein früherer Mitarbeiter des Strafgerichtshofs. „Wir sprachen Details konkreter Vorfälle an. Wir sagten: ‘Uns werden Anschuldigungen vorgetragen, die diese Angriffe oder Tötungen betreffen’ und sie gaben uns dazu Informationen.“ Eine Person mit unmittelbarem Wissen über Israels Vorbereitung auf diese Geheimtreffen erzählte, dass die Vertreter des Justizministeriums vor der Ankunft der Delegationen in Den Haag mit Informationen aus der israelischen Überwachungskampagne versorgt wurden. „Die Juristen, die im Justizministerium mit der Angelegenheit befasst waren, hatten einen großen Durst nach geheimdienstlichen Informationen.“

Komplementarität: Ermittelt werden kann nur, wenn nicht schon in Israel ermittelt wird

Für die Israelis waren die Treffen zwar eine delikate Angelegenheit, sie gaben ihnen aber die Möglichkeit, rechtliche Argumente gegen die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft für die palästinensischen Gebiete vorzubringen. Sie versuchten außerdem, die Staatsanwältin davon zu überzeugen, dass das israelische Militär trotz seiner höchst fragwürdigen Bilanz der Verfolgung von Verstößen in ihren eigenen Rängen robuste Instrumente besitze, um die Mitglieder seiner Armee zur Rechenschaft zu ziehen.

Für Israel war das ein sehr wichtiger Punkt. Ein zentrales ICC-Prinzip ist der Grundsatz der Komplementarität. Der Staatsanwalt kann nur dann eine Untersuchung einleiten oder Einzelpersonen anklagen, wenn diese nicht bereits auf Staatsebene Gegenstand glaubhafter Ermittlungen sind oder strafrechtlich belangt werden.

Die israelischen Überwachungsagenten waren daher angewiesen, herauszufinden, welche konkreten Vorfälle Teil einer künftigen Strafverfolgung durch den ICC sein könnten, um es den israelischen Ermittlungsbehörden zu ermöglichen, in diesen Fällen „rückwirkend Ermittlungen einzuleiten“, so mehrere Quellen. „Wenn Material an den Internationalen Strafgerichtshof weitergeleitet wurde, mussten wir genau verstehen, um was es sich handelte. So konnten wir sicherstellen, dass die IDF diese Fälle unabhängig und ausreichend untersuchten – damit sie sich auf Komplementarität berufen konnten“, erklärte eine Quelle.

Das Ende von Bensoudas vorläufiger Untersuchung

Israels Geheimtreffen mit dem ICC endeten im Dezember 2019, als Bensouda das Ende der vorläufigen Untersuchung verkündete und ihre Einschätzung äußerte, dass es eine „angemessene Grundlage“ für die Folgerung gebe, Israel und palästinensische bewaffnete Gruppen hätten beide in den besetzten Gebieten Kriegsverbrechen verübt. Es war ein deutlicher Rückschlag für die israelische Führung, aber es hätte schlimmer kommen können. Mit einem Schritt, den manche in der Regierung als teilweise Anerkennung der israelischen Lobby-Bemühungen betrachteten, verzichtete Bensouda darauf, eine formelle Untersuchung einzuleiten.

Stattdessen setzte sie ein Panel von Richtern ein, die über die umstrittene Frage der Zuständigkeit des Gerichts für die palästinensischen Gebiete entscheiden sollte, aufgrund „einzigartiger und höchst umstrittener rechtlicher und faktischer Fragen“. Gleichzeitig machte Bensouda deutlich, dass sie bereit war, eine umfassende Untersuchung einzuleiten, sollten die Richter ihr grünes Licht geben. Vor diesem Hintergrund intensivierte Israel seine Kampagne gegen den ICC und wandte sich an seinen obersten Spionagechef, um den Druck auf Bensouda zu erhöhen.

Als die Chefanklägerin plötzlich vom Mossad besucht wurde

Zwischen Ende 2019 und Anfang 2021, während die Vorverfahrenskammer am ICC die Zuständigkeitsfrage prüfte, verstärkte Mossad-Chef Yossi Cohen seine Bemühungen, Bensouda davon zu überzeugen, die Ermittlungen nicht fortzusetzen. Cohens Kontakte mit Bensouda hatten bereits einige Jahre zuvor begonnen. Sie wurden dem Guardian von vier Personen beschrieben, die mit den Berichten der Staatsanwältin über die Interaktionen vertraut sind, sowie von Quellen, die über die Mossad-Operation informiert waren.

Bei einer der ersten Begegnungen überraschte Cohen Bensouda, als er unerwartet bei einem offiziellen Treffen der Staatsanwältin mit dem Präsidenten der Demokratischen Republik Kongo, Joseph Kabila, in einer Hotel-Suite in New York auftauchte. Zeugen zufolge wurden Bensoudas Mitarbeiter gebeten, den Raum zu verlassen. Dann trat in einer Art sorgfältig choreografiertem „Überfall“ hinter einer Tür plötzlich der Leiter des Mossad hervor.

Nach dem Vorfall in New York suchte Cohen immer wieder den Kontakt zu der Staatsanwältin, indem er unangekündigt auftauchte oder sie unaufgefordert anrief. Anfangs freundschaftlich, wurde Cohens Verhalten zunehmend bedrohend und einschüchternd.

Damals ein enger Verbündeter Netanjahus, war Cohen ein erfahrener Mossad-Spionagechef. Innerhalb des Geheimdienstes hatte er sich einen Ruf als geschickter Anwerber von Agenten erworben, der Erfahrung mit der Rekrutierung hochrangiger Vertreter ausländischer Regierungen hatte. Laut Berichten über seine heimlichen Treffen mit Bensouda versuchte er, mit der Staatsanwältin „eine Beziehung aufzubauen“, während er gleichzeitig daran arbeitete, sie dazu zu bringen, von einer Untersuchung abzusehen – die hohe israelische Führungsvertreter in Schwierigkeiten bringen könnte. Drei mit Cohens Aktivitäten vertraute Quellen gaben an, dass der Spionagechef versucht habe, Bensouda dazu zu bringen, den Forderungen Israels nachzukommen, während sie auf die Entscheidung der Vorverfahrenskammer wartete.

Keine Stellungnahme

Sein Ton sei drohender geworden, nachdem er erkannt hatte, dass die Chefanklägerin nicht überzeugt werden konnte. Einmal habe Cohen Bemerkungen über Bensoudas Sicherheit gemacht und schwach verschleierte Drohungen über die Folgen für ihre Karriere für den Fall ausgesprochen, dass sie weiter mache. Vom Guardian kontaktiert antworteten weder Cohen noch Kabila auf die Bitte um Stellungnahme. Bensouda lehnte eine Stellungnahme ab.

Während ihrer Zeit als Staatsanwältin berichtete Bensouda laut informierter Quellen jedoch einer kleinen Gruppe innerhalb des ICC formell über ihre Begegnungen mit Cohen, und zwar mit der Absicht, ihre Überzeugung festzuhalten, dass sie „persönlich bedroht“ wurde.

Das war nicht die einzige Art und Weise, wie Israel versuchte, die Chefanklägerin unter Druck zu setzen. Etwa zur gleichen Zeit entdeckten ICC-Mitarbeiter Einzelheiten einer diplomatischen „Verleumdungskampagne“, die sich auf ein enges Familienmitglied Bensoudas bezog. Mehreren Quellen zufolge hatte der Mossad eine Reihe Materialien, darunter Abschriften einer offensichtlichen verdeckten Operation gegen Bensoudas Ehemann, erhalten. Woher dieses Material stammt – und ob es echt war – bleibt unklar.

Jedenfalls verbreitete Israel laut Quellen Teile davon in westlichen diplomatischen Kreisen in einem vergeblichen Versuch, die Chefanklägerin in Misskredit zu bringen. Laut einem Zeugen fand es wenig Widerhall bei den Diplomaten und sei als ein verzweifelter Versuch zu werten, Bensoudas Ruf zu „beschmieren“.

Karim Khans Rolle nach dem 7. Oktober 2023

Als Karim Asad Ahmad Khan im Juni 2021 Chef der Staatsanwaltschaft des Internationalen Strafgerichtshofs wurde, erbte er eine Untersuchung, die, wie er später einmal sagte, „auf der San-Andreas-Verwerfung der internationalen Politik liegt“ – er bezog sich damit auf ein erdbebengefährdetes Gebiet in Kalifornien.

Zu Beginn seines Amtes konkurrierten verschiedene Untersuchungen um seine Aufmerksamkeit – unter anderem zu Ereignissen auf den Philippinen, in der Demokratischen Republik Kongo, in Afghanistan und Bangladesch. Und im März 2022, einige wenige Tage nach Beginn der russischen Invasion in die Ukraine, leitete er eine hochrangige Untersuchung zum Vorwurf russischer Kriegsverbrechen ein.

Anfangs räumte das Team des britischen Chefanklägers der politisch sensiblen Palästina-Untersuchung keine Priorität ein, sagen gut informierte Quellen. Es habe de facto „im Regal“ gelegen, meinte einer. Khans Büro dagegen bestreitet das. Man habe ein motiviertes Investigativ-Team zusammengestellt, um die Untersuchung voranzutreiben.

Von den Spitzenjuristen der Regierung in Israel wurde Khan, der zuvor Warlords wie den ehemaligen liberianischen Präsidenten Charles Taylor verteidigt hatte, als vorsichtigerer Ankläger angesehen als Bensouda. Im Gegensatz zu seiner Vorgängerin sei Khan laut einem früheren israelischen Beamten „sehr viel Respekt“ entgegengebracht worden. Seine Ernennung wurde von vielen als „Grund für Optimismus“ angesehen. Doch der Angriff vom 7. Oktober änderte alles.

Beim Hamas-Angriff auf den Süden Israels, bei dem palästinensische Kämpfer fast 1.200 Israelis töteten und 250 Menschen entführten, wurden schwere Kriegsverbrechen begangen. Dies gilt aus Sicht vieler Rechtsexperten auch für Israels darauffolgenden Angriff auf Gaza, bei dem laut Schätzungen mehr als 35.000 Menschen getötet wurden und das Gebiet durch die Behinderung humanitärer Hilfe durch Israel an den Rand der Hungersnot gebracht wurde.

„Ohne Israels Erlaubnis“

Am Ende der dritten Woche der israelischen Bombardierung des Gazastreifens war Khan am Grenzübergang Rafah. Anschließend besuchte er das Westjordanland und den Süden Israels, wo er eingeladen war, Überlebende des Anschlags vom 7. Oktober und Angehörige von Getöteten zu treffen.

Im Februar 2024 veröffentlichte Khan ein klar formuliertes Statement, das Netanjahus Rechtsberater als unheilvolles Zeichen interpretierten. In einem Beitrag auf X warnte er Israel vor einem Angriff auf Rafah, die südlichste Stadt des Gazastreifens, in der zu diesem Zeitpunkt mehr als eine Million Vertriebene Zuflucht gefunden hatten. „Ich bin zutiefst besorgt über die Berichte über Bombardierungen und eine potenzielle Bodeninvasion Rafahs durch israelische Truppen“, schrieb er. „Diejenigen, die sich nicht ans Recht halten, sollten sich im Nachhinein nicht beschweren, wenn mein Büro Maßnahmen ergreift.“

Diese Äußerungen erregten innerhalb der israelischen Regierung Besorgnis, da sie von Khans früheren Aussagen zum Krieg abzuweichen schienen, die als beruhigend zurückhaltend angesehen worden waren. „Diese Nachricht überraschte uns sehr“, erklärte ein führender Regierungsmitarbeiter.

In Israel eskalierte die Besorgnis über Khans Absichten im April, als die Regierung den Medien ihre Vermutung steckte, der Chefankläger überlege, Haftbefehle für Netanjahu und andere hohe Politiker wie Joaw Galant auszustellen.

Israelische Geheimdienste hatten E-Mails, Anhänge und Textnachrichten von Khan und anderen Mitarbeitern seines Büros abgefangen. „Das Thema ICC stieg auf der Leiter der Prioritäten des israelischen Geheimdienstes nach oben“, so ein Geheimdienstler. Durch Überwachung erfuhr Israel auch davon, dass Khan vorhatte, über Ägypten nach Gaza einzureisen und dringend dabei Unterstützung suchte, das „ohne Israels Erlaubnis“ zu tun.

Eine andere Einschätzung des israelischen Geheimdienstes, die in Geheimdienstkreisen weit verbreitet wurde, stützte sich auf ein abgehörtes Telefonat zwischen zwei palästinensischen Politikern. Einer von ihnen sagte, Khan habe angedeutet, dass ein Antrag auf Haftbefehle gegen führende israelische Politiker unmittelbar bevorstehen könnte, aber eingeräumt, er stehe „unter enormem Druck seitens der USA“.

Drohungen aus den USA, Einschüchterungen im Büro

Vor diesem Hintergrund gab Netanjahu eine Reihe öffentlicher Erklärungen ab, in denen er davor warnte, dass ein Antrag auf Haftbefehl unmittelbar bevorstehen könnte. Er rief „die Führer der freien Welt dazu auf, sich entschieden gegen den ICC zu stellen“ und „alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, um diesen gefährlichen Schritt zu stoppen“. Netanjahu fügte hinzu: „Israels Führer und Soldaten als Kriegsverbrecher zu brandmarken, gießt Öl ins Feuer des Antisemitismus.“ In Washington hatte eine Gruppe hochrangiger republikanischer US-Senatoren bereits einen Drohbrief mit einer offenen Warnung an Khan geschickt: „Nehmt Israel ins Visier und wir nehmen euch ins Visier.“

Unterdessen verstärkte der Internationale Strafgerichtshof seine Sicherheitsvorkehrungen durch regelmäßige Durchsuchungen der Büros der Staatsanwaltschaft, Sicherheitskontrollen von Geräten, telefonfreie Bereiche, wöchentliche Bedrohungsanalysen und die Einführung von Spezialausrüstung. Einem Sprecher zufolge war Khans Büro Ziel „mehrerer Formen der Drohungen und Kommunikationen, die als Versuche betrachtet werden könnten, seine Handlungen unzulässig zu beeinflussen.“

In einem Interview mit dem US-Sender CNN sagte Khan kürzlich, einige gewählte führende Politiker hätten „sehr unverblümt“ regiert, als er die Haftbefehle vorbereitete. „’Dieses Gericht wurde für Afrika und Verbrecher wie Putin geschaffen‘, sagte ein hoher Politiker zu mir.“

„Dieser Tag ist gekommen“

Trotz des Drucks entschloss sich Khan, wie seine Vorgängerin im Chefanklägeramt, weiter zu machen. Im Mai verkündete Khan schließlich, dass er Haftbefehle für Netanjahu und Galant sowie drei Hamas-Anführer wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit beantragt. Nach seinen Angaben wird Israels Ministerpräsident und seinem Verteidigungsminister vorgeworfen, für Vernichtung, Aushungerung, Verweigerung humanitärer Hilfslieferungen und gezielte Angriffe auf Zivilisten verantwortlich zu sein.

An einem Rednerpult stehend, mit zwei seiner obersten Staatsanwälte – einem Amerikaner und einem Briten – an der Seite, erklärte Khan, er habe Israel wiederholt dringend aufgefordert, für die Einhaltung des Humanitären Rechts zu sorgen. „Insbesondere habe ich betont, dass Aushungerung als Methode der Kriegsführung und die Verweigerung humanitärer Hilfe Vergehen gegen das Römische Statut darstellen. Ich hätte es nicht deutlicher machen können“, sagte er. „Immer wieder habe ich in meinen öffentlichen Äußerungen auch unterstrichen, dass diejenigen, die sich nicht ans Recht halten, sich hinterher nicht beklagen sollten, wenn mein Büro handelt. Dieser Tag ist gekommen.“